ag(o)ra-
Bespielungen
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Die Gläserne Kuh auf dem ag(o)ra vom Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Zwei weitere Stücke der Leipziger ag(o)ra-Bespielung beschäftigen sich direkt mit der DDR-Vergangenheit. In dem szenischen Rundgang Die Gläserne Kuh wird man in einer Gruppe von ZuschauerInnen über das frühere agra-Gelände geführt. Die seit 1952 veranstalteten DDR-Landwirtschaftsschauen haben die Wende als Mitteldeutsche Landwirtschaftsaustellung noch um weitere 5 Jahre überlebt, dann wurden sie eingestellt. Heute dient das großteils verwaiste Gelände noch als Veranstaltungsort für das traditionell an Pfingsten stattfindende Leipziger Wave-Gotik-Treffen oder einen Antik-Trödelmarkt. Die umliegenden Parks laden zum Flanieren ein, und der Markkleeberger See ist auch nicht weit. Früher war hier mehr los auf dem Gelände, wo sich zu agra-Zeiten bis zu 700.000 BesucherInnen aus aller Welt tummelten. Sich das bildlich vorzustellen, fällt heute sicher schwer. Und auch die besagte „Gläserne Kuh“, ein lebensgroßes transparentes Model, hat nicht überlebt. Dafür folgt man nun dem Ensemble in einer retrospektiven Rückschau bei den Vorbereitungen zur agra-Landwirtschaftsausstellung im Jahr 1981 als sogenannte Prüfkommission aus staatstragenden Funktionären, die den genau vorgezeichneten Messeparcours abnehmen sollen.
Das Messepersonal besteht aus dem Parteisekretär (Dirk Lange), einer Justiziarin (Teresa Schergaut), einer Thematikerin (Annett Sawallisch), dem Hausmeister (Julius Forster), und als Schallplattenunterhalter Mirko Markowski stellt sich Denis Petković vor. So geht es nach der Begrüßung der hohen Gäste mit musikalischer Untermalung aus dem Bollerwagen von Station zu Station. Da werden beflissen als Vorzüge und Errungenschaften der sozialistischen Landwirtschaftsproduktion aufgezählt und weitere Potemkinsche Dörfer aufgebaut. Welche Bauern da im Vergleich die größten Kartoffeln und Rüben haben, ist eh klar. Wir besichtigen eine Messehalle, die Studios für die Herstellung von landwirtschaftlichen Propagandafilmen und eine Kittelschürzenmodeschau. Das Motto lautet: „Vorwärts immer. Rückwärts nimmer.“ Nur die versprochene Präsentation der Gläsernen Kuh lässt auf sich warten.
Das ist bis hierhin alles sehr lustig und ironisch aufbereitet. Erst als der Parteisekretär die Nerven verliert und an der Erfüllung des geforderten Plansolls an Getreide zweifelt, zeigt die Inszenierung ein anderes Bild von der Erziehung des sozialistischen Menschen mit Anklageführung vor der Kommission und Rotlichtbestrahlung. Die Bemühungen des Teams zur Befriedigung der Abnahmekommission gipfeln noch in einem lustigen Landwirtschaftsnutzfahrzeuge-Ballett und einer Tierschau mit ausgefallenen Kostümen. Auch das ein humorvoller Verweis auf die DDR-Planwirtschaft, bei der die Bäume bekanntlich nicht unbedingt in den Himmel wuchsen. Ein unterhaltsamer und lohnender Nachmittag, auch wenn Text und Regie von Falk Rößler manchmal etwas übers Ziel hinausschießen. Zur Ruhe kommt das bunte Treiben erst bei einer Erzählung von Julius Forster, in der zwei Gartenfreunde aus Rostock mit einer extra gezüchteten Rose für ein Wochenende zur agra fahren, um diese allen Gästen zu präsentieren. Da zeigt sich ein wenig der Geist, im Kleinen etwas unbedingt schaffen zu wollen, was im Großen leider so nicht funktioniert hat.
Bewertung:
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Wie die Bodenreform und Kollektivierung in der Nachkriegs-DDR der 1950er Jahre Einzug hielt, beschreibt der Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) mit allen Widrigkeiten und gesellschaftlichen Hemmnissen in seinem 1961 uraufgeführten und gleich wieder verbotenem Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande. Der Regisseur B.K. Tragelehn wurde zur Besserung in die Produktion geschickt und Müller aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Eine recht ostalgische Inszenierung gab es zuletzt vom Regieduo Kuttner/Kühnel am Deutschen Theater Berlin.
In Leipzig entschlackt Regisseur Moritz Sostmann den Text und kitzelt die komischen Seiten aus Müllers bei aller Drastik durchaus als verkappte Komödie zu verstehendem Stück. Zusätzlich werden die Bauern und Umsiedler mit vom Ensemble geführten Puppen gespielt. Und auch ein Traktor kommt tuckernd und glucksend zum Einsatz. Das harte Leben auf dem sozialistischen Lande als ironisches Kasperletheater.
Passend dazu auch das Kulturhausambiente im ehemaligen Kultursaals der agra. Das Publikum sitzt auf einer Tribüne vor einem breiten Bühnenportal. Auf der Bühne von Christian Beck steht nur ein langes Sofa und ein bügelbrettartiger Tisch, von dem aus Roman Kanonik als korrupter Bürgermeister Beutler die Verteilung des Bodens an die Bauern vornimmt. Schon das ist im recht bildhaften Müllerton ein Ereignis. „Die Revolution kennt keinen Aufenthalt. Und weiter geht die Bodenreform. Der Nächste.“ Fünf Hektar Land gibt es für jeden, von dem keiner Leben oder sterben kann. Es fehlt an Saatgut und Pferden. Zwei Traktoren, 24 PS, sind versprochen, sagt der Parteisekretär Flint. Tilo Krügel spielt den müden Ideologen, der gegen Missstand und Vorurteil agitieren muss und dabei ein ums andere Mal nicht nur am anarchisch sich wehrenden Kneipenphilosophen Fondrak (als Puppe geführt und gesprochen von Eva Vinke) scheitert.
Zum Teil im breiten Sächsisch den Puppen in den Mund gelegt klingen die kantigen Blankverse Müllers heute wie bitterer Hohn. „Der Kommunismus ist was für die Zeitung“, sagt der ehemalige Großbauer Rammler (gesprochen und geführt von Tobias Eisenkrämer) und ist damit hart am Ton der heutigen Zeit, in der viele wieder von Lügenpresse reden. Das Stück zeigt, woher das kommt. „Die Idee ist gut. Wenn nur die Menschen besser wärn.“ Bauernschläue gegen neue Staatsmacht. Hier versucht jeder mit dem Rücken an die Wand zu kommen. Die einen besser, die anderen schlechter. Es ist mehr ein Feilschen um die Seelen der Bauern als echte Überzeugungskraft. Das Abgabesoll schafft nicht jeder, nicht mal der Parteisekretär Flint. „Gott hat euch aus dem Paradies geprügelt. Wir prügeln euch ins Paradies zurück.“ Auch wenn Beutler schließlich als Bürgermeister abgelöst wird, schafft Flint sein Ziel der Kollektivierung nur durch weiteren Zwang.
Am Ende heißt es: „Entweder auf dem Traktor oder drunter.“ Müllers Bilanz zur neuen Zeit ist da sehr pessimistisch. Auch wenn die wenigen Szenen mit der eigentlich titelgebenden Umsiedlerin Niet (gesprochen und geführt von Christine Zeides) recht kurz kommen, kann man in ihr doch ein klares Gegenbild zum vorherrschenden Egoismus erkennen. Regisseur Sostmann und seinem engagiert spielenden Ensemble aus Menschen und Puppen gelingt hier ein erstaunlich lebendiges Spiel mit einem eigentlich fast schon vergessenen Text aus scheinbar vergangenen Tagen.
Bewertung:
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Heiner Müllers Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Stefan Bock - 12. Mai 2025 ID 15262
Die Gläserne Kuh | ag(o)ra, 10.05.2025
Prüfbegehung der agra-Landwirtschaftsausstellung 1981
Regie, Text & Recherche: Falk Rößler
Text, Recherche & Künstlerische Mitarbeit: Tino Kühn
Recherche & Künstlerische Mitarbeit: Mara May
Ausstattung: Stella Vollmer und Rayén Zapata-Gundermann
Musik: Nils Michael Weishaupt
Choreographie: Romy Avemarg
Dramaturgie: Julia Buchberger
Mit: Teresa Schergaut, Dirk Lange, Annett Sawallisch, Julius Forster und Denis Petković
Premiere am Schauspiel Leipzig: 24. April 2025
Weitere Termine: 18., 21., 22., 23.05./ 16., 17., 18., 21.09.2025
Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande | ag(o)ra, 10.05.2025
von Heiner Müller
Regie: Moritz Sostmann
Bühne: Christian Beck
Kostüme: Maryna Ianina
Puppenbau: Hagen Tilp
Dramaturgie: Georg Mellert
Licht: Jörn Langkabel
Ton: Anko Ahlert
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Tobias Eisenkrämer, Sonja Isemer, Roman Kanonik, Tilo Krügel, Franziska Rattay, Eva Vinke und Christine Zeides
Premiere am Schauspiel Leipzig: 24. April 2025
Weitere Termine: 24., 25., 30.05.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-leipzig.de/
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