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Neuinszenierung

Jette Steckel inszenierte Camus´ Dramatisierung von Dostojewskis Roman Die Dämonen. Nur warum?



(C) Thalia Theater Hamburg

Bewertung:    



Liebe, Kunst, Revolte - das ist es, was die Philosophie von Albert Camus u.a. ausmacht. Alles auch Ingredienzien für ein gutes Theaterstück. Den Stoff dafür nahm sich Camus aus Dostojewskis Roman Die Dämonen (auch als Böse Geister bekannt). Kurz vor seinem tragischen Unfalltod schrieb er eine Bühnenfassung mit dem Titel Die Besessenen, die 1959 in Paris uraufgeführt wurde. Die Menschen in der Revolte sind hier eine Gruppe von Sinnsuchern und Nihilisten im vorrevolutionären Russland, die glauben im charismatischen Nikolai Stawrogin ihren Anführer gefunden zu haben. Stawrogins Gegenspieler ist der skrupellose Nihilist Pjotr Werchowenski, der ihn für seine terroristische Gruppe als Anführer gewinnen will. Letztendlich strebt Werchowenski aber auch nur eine Art von Diktatur an, in der 90 Prozent der Menschheit von 10 Prozent Auserwählter beherrscht werden sollen. Das Ganze scheitert trotz eines gemeinschaftlich ausgeführten Mords am Abweichler Schatow am fehlenden Zusammenhalt und an der Ablehnung Stawrogins, der sich aus moralischen Gewissensbissen, am Selbstmord eines von ihm verführten jungen Mädchens Schuld zu sein, erhängt. Es kommen noch jede Menge andere Figuren aus dem Umfeld Stawrogins ums Leben. Keine einfache Kost also.

Als Spezialistin für Camus hat sich Jette Steckel, Hausregisseurin am Thalia Theater Hamburg, Camus Bühnenfassung vorgenommen und reiht sich damit in die lange Reihe derer ein, die sich an Dostojweskis Roman oder Camus' Stück oder wie 1999 Frank Castorf an beidem versucht haben. Auch Jette Steckel hat Passagen aus den Dämonen mit in ihre Inszenierung hineingenommen. Ein diskkursiver und philosophischer Mix aus Dostojweskis Suche nach Wahrheit und Camus' Kampf um die Erkenntnis der Widersprüche zwischen einem Ja zum Leben im Absurden, das in die Revolte mündet, und einem Nein zum Mord aus ideologischen Gründen. Das passt gerade wieder sehr gut.

Auf die Bühnenrampe des Thalia Theaters klettert zu Beginn das 10-köpfige Ensemble mit Holzwürfeln, auf die sich alle nebeneinander setzen und erstmal Farbe in die Haare schmieren. Live gemalt wird aber auch am Eisernen Vorhang. Tim Burchardt hängt in einem Gerüstkorb von der Decke und schafft sich an den bizarren Figuren aus Hieronymus Boschs dämonischer Bilderwelt. Der Garten der Lüste zwischen dem Garten Eden und der Hölle. Das hat neben dem schon erwähnten Kunstaspekt natürlich auch eine religiöse und philosophische Note. Was tritt an die Stelle Gottes, wenn der Himmel leer ist? Was ist die absolute Wahrheit und was der Sinn des Lebens. Darüber wird viel diskutiert an diesem Abend. Widersprüche sind das Salz in der Suppe des Lebens, wenn man es nicht wie der Nihilist Werchowenski (Sebastian Zimmler) verneint, oder wie der Ingenieur Kirillow (Nils Kahnwald) als Beweis der eigenen Freiheit und Göttlichkeit selbst beenden will.

Das Personal hat Jette Steckel etwas eingedampft. Es fehlt vor allem die Hausherrin und Mutter des Hauptprotagonisten Warwara Stawrogina. Barbara Nüsse spielt ihren heimlichen Verehrer, den liberalen Lehrer Stephan Werchowenski, Vater von Pjotr Werchowenski, der die schmächtige Schauspielerin auch mal hoch an die Rückwand presst. Ansonsten muss man, hat man kein Programmheft und ist des Stoffes nicht mächtig, schon sehr genau zuhören, um die verbliebenen Figuren erkennen und zuordnen zu können. Meist plötzlich aus der Gruppe heraus springen sie wie Cathérine Seifert als Dascha Schatowa, Maike Knirsch als Lisa Schigalewa oder Lisa Hagmeister als Marja Lebjadkina, heimliche Angetraute von Nikolai Stawrogin, in ihre Rollen.

Wer da zu wem gehört, ist nicht immer gleich erkennbar. Julian Greis dröhnt erst als betrunkener Hauptmann Lebjadkin und gibt dann noch den Möchtegern-Mitumstürzler Wirginski. Dessen Schwager Schigaljow, Hauptideologe der Gruppe, fehlt im Aufgebot. Dafür darf Felix Knopp als Iwan Schatow noch auf einer Orgel an der Seite spielen und ein paar Popsongs zum Besten geben. Dazu wird auch ein- zweimal dämonisch in Reihe getanzt. André Szymanski ist als Liputin gelistet, hat aber auch Sätze des Verlobten von Lisa, Mawrikij, zu sagen. Als verrückter Mörder Fedka geistert noch Barbara Nüsse mit Maske umher. Wenn sie Lebjadkin und seiner Schwester Marja die Kehle durchschneidet, weiß man wieder, dass man irgendwo bei Camus oder Dostojweski ist.

Philosophiert wird immer in der Gruppe, aus der noch Jirka Zett hin und wieder als etwas larmoyanter Stawrogin, ein Zweifler im Herzen, heraussticht. Erklärt wird das diskursive Durcheinander wieder mehr im Programmheft als auf der Bühne. Am Ende kommt auch da eins zum anderen, spult sich das Verhängnis nach und nach ab. Stawrogin hängt am Pfaden, und Werchowenski flieht, wie vorher angekündigt, vermutlich in sein „Wochenendhaus auf Sylt“.

*

Nur warum das alles? Bei aller darstellerischer Mühe des spielfreudigen Ensembles, über die Dauer von 2,5 Stunden kann das nicht wirklich überzeugen und lässt einen dann doch relativ unberührt und kalt zurück. Oder auch lau, wie einmal der ebenso abwesende Bischof Tichon zum um Vergebung bittenden Stawrogin sagt.



Die Besessenen am Thalia Theater Hamburg | Foto (C) Armin Smailovic

Stefan Bock - 31. Januar 2023
ID 14028
DIE BESESSENEN (Thalia Theater Hamburg, 29.01.2023)
von Albert Camus

Regie: Jette Steckel
Bühne: Nadin Schumacher und Jette Steckel
Kostüme: Pauline Hüners
Dramaturgie: Emilia Linda Heinrich
Musik: Felix Knopp und Lars Wittershagen
Choreografie: Yohan Stegli
Licht: Paulus Vogt
Besetzung:
Barbara Nüsse (Stephan Trofimowitsch Werchowenski)
André Szymanski (Liputin)
Felix Knopp (Iwan Schatow, Orgel, Gesang)
Julian Greis (Wirginski, Hauptmann Lebjadkin)
Jirka Zett (Nikolai Stawrogin)
Cathérine Seifert (Dascha Schatowa)
Nils Kahnwald (Alexej Kirillow)
Maike Knirsch (Lisa Schigalewa)
Lisa Hagmeister (Marja Timofejewna Lebjadkina)
Sebastian Zimmler (Pjotr Stepanowitsch Werchowenski / Live-Set)
Live-Bühnenmalerei: Tim Burchardt
Premiere war am 25. Januat 2023
Weitere Termine: 20.02. / 05.03.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.thalia-theater.de/


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