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Premierenkritik

Schlachten

Oliver Frljić vollendet seine Kriegstrilogie am Maxim Gorki Theater mit Texten aus Heiner-Müller-Stücken und einer plakativen Bildfolge des allgemeinen Kriegshorrors


Foto (C) Esra Rotthoff

Bewertung:    



Es ist vollbracht. Regisseur Oliver Frljić hat mit Schlachten seine Kriegstrilogie am Maxim Gorki Theater vollendet, deren 1. Teil kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 mit einem Zusammenschnitt von Euripides Tragödie Iphigenie mit Büchners Stück Dantons Tod ihren Auftakt nahm und im Oktober 2022 mit Brechts Mutter Courage fortgesetzt wurde. Nun also der 3.Teil, der im Wesentlichen aus Texten von Heiner Müller besteht. Da vollendet sich ein Reigen von theatralen Betrachtungen zu Krieg, Gewalt und deren Anklage bzw. auch Rechtfertigung aus der Sicht jener, die sich kriegerischer Mittel betätigen, quer durch die Weltgeschichte. Und dass das bei Oliver Frljić nicht immer subtil und völlig ausdifferenziert abläuft, sollte einem schon vor dem Besuch der Aufführungen klar sein. Die plakative Provokation gehört hier immer mit zum Handwerk.

So auch in seiner jetzigen Inszenierung, in der Frljić Texte aus den Müller-Stücken Philoktet, Wolokolamsker Chaussee und Germania 3 - Gespenster am toten Mann eigene Zwischenspiele sowie einige Fremdtexte zu einer Art collagierter Szenenfolge verschneidet. Dass es an diesem Abend keine Moral und nichts zu lachen gibt, verheißt gleich der Anfang mit dem Prolog aus Müllers Philoktet. Die vier DarstellerInnen Marina Frenk, Tim Freudensprung, Vidina Popov und Mehmet Yılmaz tragen Requisiten wie kleine Puppen, Maschinenpistolen und Masken auf die Bühne (Igor Pauška), in deren Hintergrund ein großes Heiner-Müller-Portrait hängt und Holzsärge aufgestapelt sind. Die gab es auch schon in Brechts Courage hier zu sehen. Der Body Count gehört mit zum Kriegsgeschäft, was hier im Folgenden auch noch thematisiert wird.

Zunächst tritt aber Mehmet Yılmaz in der Szene Panzerschlacht (groß im Hintergrund betitelt) aus Müllers Germania 3 als Stalin auf, während im Hintergrund die drei anderen mit Hitler-, Lenin- und Trotzki-Masken tanzen. Das große Thema bei Müller ist ja das beiderseitige Schrecken des Krieges und die ideologische Kriegsführung auf russischer und deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg. Stalin und Hitler als Menschenverschleißer. Der paranoide Stalin, der eigentlich auf Hitlers Vormarsch hofft, um den Hass und Siegeswillen der eigenen Truppen zu beflügeln. „Ich habe dieses Land mit Blut gedüngt.“ „Wer zählt die Toten, wenn die Gräber leer sind.“ Eine Heimsuchung aus einer Geschichte von Kriegen. Deren Tote bevölkern Müllers kurze Szenenabfolgen wie Gespenster. Frljić schneidet sie hier plakativ zu einem Grusel-Reigen. Erst der russische Kommandeur, der einen Soldaten, der sich selbst in die Hand geschossen hat, zur Abschreckung erschießen lässt. Dann drei russische Soldaten, die bei einem toten Deutschen ein Hölderlin-Buch und ein Foto gehängter Partisanen finden. Oder die drei deutschen Offizierswitwen, die sich aus Angst vor den vorrückenden Russen von einem fliehenden kroatischen SS-Mann töten lassen. Müller nannte das sehr zynisch Der Gastarbeiter.

Oliver Frljić scheint das nicht genug zu sein. Er lässt zweimal unterbrechen und macht den Krieg erst zum Wettbewerb um die meisten Toten, nach dem Motto „Germany’s next Top-Opfer“. Ein Spiel um Opferzahlen, in dem die aktuellen Kriege gegeneinander antreten und auch das Erdbeben in der Türkei und Syrien mit aufgezählt wird. Mindestens Empörungspotential besitzt die zweite Spielidee, vor der auf der Bühne gefragt wird, ob man nicht von Heiner Müller schon „die Schnauze voll“ habe. Zum John-Lennon-Peace-Song Imagine soll sich das Publikum vorstellen, die USA wären beim ebenfalls völkerrechtwidrigen Krieg gegen den Irak, dem bekanntlich Falschinformationen von dortigen Massenvernichtungswaffen vorausgegangen waren, wie Russland mit Sanktionen belegt worden. Kann man sich vorstellen, muss man aber nicht unbedingt. Frljić Absicht ist es vermutlich auch eher nicht, den Angriff Russlands auf die Ukraine mit dem der USA auf den Irak gleichzuführen, sondern einen Blick auf Wahrnehmung, Deutung und Manipulation von Kriegen zu lenken.

Zu kritisieren ist natürlich, dass, wie schon in den zwei Inszenierungen vorher, etwas schludrig mit dem Textmaterial umgegangen wird. Man hechelt hier immer bemüht um möglichst effektvolle Bilder durch Müllers kurze Szenen. Es werden dabei die kleinen Puppen mit Gewehren und Zigaretten traktiert. Auf einem Sarg ergibt das Peace-Zeichen + Mercedes-Emblem das Nato-Symbol. Oder Schilder von bombardierten Städten wie Hiroshima, Dresden oder Cherson werden aufgestellt.

Das im Mittelteil des lediglich 75minütigen Abends eingefügte Philoktet-Stück wird von Marina Frenk und Vidina Popov im Schnelldurchlauf mit wechselnden Rollen und Masken erledigt. Wer den Text nicht kennt, dürfte Mühe haben, zu folgen. Der Überredungsversuch mit Odysseus‘scher List und Tücke, den verletzt auf einer Insel zurückgelassenen Bogenschützen Philoktet wieder in die griechische Phalanx gegen Troja zurückzuholen, scheitert tödlich. Philoktets Tod wird aber zu Propagandazwecken genutzt. Zumindest das dürfte als Fazit der Anstrengung erkennbar sein.

Frljić ergießt auch im Weiteren viel Bildmaterial über das Publikum. Da flimmern die Namen und Jahreszahlen von diversen Kriegen und Fotos von gesichtsverstümmelten Soldaten des Ersten Weltkriegs über die Saalwände. Aus Susan Sontags Essay Das Leiden anderer betrachten über das manipulative Potential von Kriegsfotografien wird zu Bildern von verhungernden Kindern und bekannten Fotos aus dem Vietnamkrieg zitiert und auch der Aufruf zum Krieg von Kaiser Wilhelm II. am Vorabend des Ersten Weltkriegs ertönt als Originalaufnahme aus dem Off. Der Mensch als manipulierbare Masse dürfte theateraffinen, der Empathie fähigen Bildungsbürgern fremd sein. So fremd bleibt einem auch diese Inszenierung, die kaum Zeit und Gelegenheit zum gedanklichen Andocken bietet. Dem Abend, der mit positiver Kritik sicher nicht überhäuft werden wird, bleibt zu wünschen, dass ihm das Gorkitheater Angebote zu Publikumsgesprächen an die Seite stellt.



Schlachten am Maxim Gorki Theater Berlin | Foto (C) Ute Langkafel MAIFOTO

Stefan Bock - 27. März 2023
ID 14120
SCHLACHTEN (Maxim Gorki Theater Berlin, 25.03.2023)
mit Texten von Heiner Müller

Regie: Oliver Frljić
Bühne: Igor Pauška
Kostüme: Katrin Wolfermann
Musikalische Leitung: Daniel Regenberg
Video Design: Stefan Bischoff
Dramaturgie: Simon Meienreis
Mit: Marina Frenk, Tim Freudensprung, Vidina Popov und Mehmet Yılmaz
Premiere war am 25. März 2023.
Weitere Termine: 02.04./ 18.04.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de


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