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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Wo der

reine Wein

zerrinnt



Der zerbrochene Krug am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Bewertung:    



Schenk mir ein, den reinen Wein! Denn im Wein liegt bekanntlich Wahrheit. Diese Redewendung aus dem Mittelalter kommt einem während des Vorgeführten in den Sinn. Eine Gerichtsrätin süffelt traut mit einem Richter gläserweise Wein in der Verfahrenspause einer Verhandlung. Kommt sie so der Wahrheit auf die Spur? Im Verlauf von Heinrich von Kleists Lustspiel von 1808 haut der Richter auf der Bühne am Theater Bonn wiederholt laut mit dem Hammer auf sein Richterpult. Die ehrwürdige Gerichtshoheit bleibt trotzdem zweifelhaft, denn der Amtsträger der Gerichtsgewalt engagiert sich betont wenig im Sinne der Wahrheitsfindung. Ohne die Beweislast zu berücksichtigen, möchte er urteilen. Immer wieder schneidet er hochfahrend der wohl wichtigsten Zeugin das Wort ab. Lässt es sich an der Wahrheit vorbeireden? Stehen Richter über dem Gesetz, wenn es ihnen unliebsam ist? Auf der Bühne ist es lärmig, die Figuren sind aufgebracht. Es wird viel gewettert. Dabei dreht sich alles doch scheinbar nur um einen alten Krug, der in der Nacht zuvor zerbrach.

Tom Muschs Bühne erinnert mit großräumiger Holzverkleidung an hochherrschaftliche Gerichtssäle. Ein angedeutetes, altes Stadtwappen verweist auf die alte Bonner Republik. Das Wappen ist mit kopflosem Löwen ähnlich zerbrochen wie der titelgebende Krug. Ein Kreuz, positioniert direkt hinter dem Richterpult, droht mit der Passion Christie. Zum konservativ biederen und statisch anmutenden Setting möchte ein ausgeklapptes Schrankbett nicht passen. Hier liegt zu Vorführungsbeginn Richter Adam (Klaus Zmorek), nur in Unterwäsche. Erst als der eifrige Gerichtsschreiber Licht (Wolfgang Rüter) im feinen Anzug auftritt, beginnt der Richter sich langsam zum Dienst anzukleiden. Der Richter überrascht mit mehreren Platzwunden am Kopf und einem hinkenden Fuß. Ausgerechnet in diesem Zustand möchte ihn Gerichtsrätin Walter (Merle Wasmuth) an seinem Dienstsitz heimsuchen. Während Richter Adam noch seiner Perücke verlustig ist und sich umständlich den Hosenschlitz zuzieht, tritt sie im schicken Anzug auf hochhackigen Schuhen auf. Richter Adam weist ihr nach einem abschätzigen, chauvinistischen Flirtversuch einen Stuhl auf ebenerdiger Bühne zu. Sie trägt ihn geflissentlich hoch auf die Ebene mit dem Richterstuhl und platziert ihn auf der rechten Seite. Es wird klar, dass sie ihn bei dem heutigen Verfahren beurteilen wird.

Prompt tritt zu beiden Seiten ein erregter Pulk aus vier Personen auf, angeführt von Marthe Rull (ausdrucksstark: Ursula Großenbacher). Sie macht viel Aufhebens um einen zerbrochenen Krug, zu dem sie eine jahrhundertealte Historie zum Besten gibt. Sie beschuldigt Ruprecht Tümpel (Markus J. Bachmann), den Liebhaber ihrer Tochter Eve (Lena Geyer), den Krug abends in Eves Kammer zerbrochen zu haben. Die ebenfalls anwesende Tochter widerspricht ihr. Außerdem steht Ruprecht sein Vater Veit (Wilhelm Eilers) bei. Der Richter bittet alle herrisch, Platz zu nehmen.

*

Schauspieldirektor Jens Groß hat in seiner Inszenierung die Figuren teils lustvoll mit Spleenen ausgestattet. Markus J. Bachmann rollt als beschuldigter Ruprecht fortwährend mit den Augen, schürzt die Lippen und neigt zu impulsiven Bewegungen. Er schimpft seine Eve wiederholt eine „Metze“, ein veralteter Begriff für ein sogenanntes „leichtes Mädchen“. In ihrer Kammer scheint noch ein anderer gewesen zu sein.

Nicht nur die Sprache von Kleists Blankversen und das spießig-biedere Setting wirken in dieser Inszenierung veraltet; auch die Ideen erscheinen oft altbacken, umständlich und allzu boulevardesk. Es ist niedlich, wenn Marthe Rull die Brotdosen auspackt und eine ihrer Tochter reicht, während der Richter der Gerichtsrätin in der Pause Wein einschenkt. Die Bewegungsregie wird prompt noch betulicher, wenn Eve diese Brotdose auf den Boden hinüber zu ihrem Liebhaber gleiten lässt, um womöglich Frieden zu schließen. Natürlich geraten Mutter und Tochter respektive Vater und Sohn schnell aneinander. Dem jeweilig nicht betroffenen Elternteil obliegt es dann, an die Elternliebe des anderen zu appellieren. Interessant ist da eher, dass auch die Gerichtsrätin die bevormundenden Anreden und den herablassenden Tonfall vom Richter übernimmt, wenn sie die Zeugin mit der Verkleinerungsform „Evchen“ anredet. Bald hat die Gerichtsrätin selbst kaum noch Interesse an der Wahrheit, da sie wohl Schlimmes befürchtet. Trotzdem macht gegen Ende Lena Geyer als Eve ihre Aussage, mit unbewegtem Gesicht und betont emotionslos. Bis dahin haben sich die Verdachtsmomente arg gehäuft.



Der zerbrochene Krug am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu


Peter Stein schuf 2008 am Berliner Ensemble mit seiner Inszenierung von Der zerbrochene Krug einen gefeierten Publikumshit. Die Theatergemeinde Berlin wählte das Kleist-Lustspiel mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle des Dorfrichters zur Vorführung des Jahres 2008/2009. Peter Stein wertete, anders als Jens Groß in Bonn, die Rolle des Gerichtsrats mit einem friedenstiftenden Monolog am Ende auf. Auch in der kurzweiligeren Bonner Inszenierung fallen am Ende Kunstschneeflocken durch ein geöffnetes Fenster, wenn der Hauptverdächtige nach draußen entflieht. Leider ist in der Bonner Aufführung die Personenführung deutlich weniger pointiert. Das vorhersehbare Geschehen wird konventionell und uninspiriert in die Länge gezogen.

Ansgar Skoda - 21. November 2021
ID 13310
DER ZERBROCHENE KRUG (Schauspielhaus, 19.11.2021)
Inszenierung: Jens Groß
Bühne und Kostüme: Tom Musch
Licht: Boris Kahnert
Dramaturgie: Male Günther
Besetzung:
Richter Adam … Klaus Zmorek
Schreiber Licht … Wolfgang Rüter
Gerichtsrätin Walter … Merle Wasmuth
Marthe Rull … Ursula Grossenbacher
Eve Rull … Lena Geyer
Veit Tümpel … Wilhelm Eilers
Ruprecht Tümpel … Markus J. Bachmann
Premiere war am 19. November 2021.
Weiterer Termin: 28.11.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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