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Premierenkritik

Das Duo Vinge/Müller kehrt mit einem 8-Stunden-Ibsen an die Berliner Volksbühne zurück.



PEER GYNT in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Julian Röder

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Nach 8 Jahren Volksbühnenabstinenz sind sie wieder da, die nicht tot zu kriegenden Theaterzombies des norwegischen Extremtheatermachers Vegard Vinge und seiner Bühnenbildnerin Ida Müller. Sie sind etwas älter geworden und sicher auch nicht sehr viel weiser. In die Jahre gekommen ist auch das Fanpublikum, das die Truppe bei ihren bis zu 24 Stunden ausschweifenden Ibsen-Verwurstungen im Volksbühnenprater treu begleitet hat, von der Wildente (2009) über John Gabriel Borkman (2011-2012) und das 12-Spartenhaus nach Ein Volksfeind (2013) bis zum Nationaltheater Reinickendorf (2017) für die Berliner Festspiele. Aber auch die neugierige Jugend strömte zur diesmal auf nur 8 Stunden begrenzten Neu-Produktion von Ibsens dramatischem Langgedicht Peer Gynt. Und diesmal ist die Vorstellung sogar auf der großen Bühne im Haupthaus am Rosa-Luxemburg-Platz zu sehen. Der Prater in der Kastanienallee harrt nach langjähriger Sanierungspause immer noch seiner Wiedereröffnung.

Aus der Volksbühne war vor der Premiere außer dem Stücktitel so gut wie nichts zur Produktion zu erfahren. Man war also höchst gespannt auf das, was einen dort erwarten und vor allem wie lange der Abend dauern würde. Und spannend war es bis zum ersten Klingeln, vor dem sich das wartende Premierenpublikum in der kleinen Kassenhalle vor dem Parkett-Foyer drängte. Und schon das ist einen Besuch wert. Ida Müller hat das Foyer auf beiden Seiten mit einer Stellwand-Ausstellung der Produktionsbilder ausgestattet. Viele schwarz-weiße Comicstrips und neu gestaltete Filmplakate von US-amerikanischen Actionklassikern wie Rocky, Rambo oder Top Gun zieren die Wände. Und auch die Panini-Fußballer-Galerie aus dem Nationaltheater Reinickendorf darf nicht fehlen.

Viele popkulturelle Verweise und Zitate gibt es auch auf der großen Bühne, die zunächst noch mit einem Vorhang und großem Videoscreen verdeckt ist. Auch an den Seiten des Saals hängen zwei Videowände, auf denen das Geschehen hinter der Bühne übertragen wird. Das kennen die meisten schon von Frank Castorf, und auch sein Bühnenbildner Aleksandar Denic dürfte beim Anblick der Häuserkulissen, die Ida Müller für die Produktion kreiert hat, neidisch werden. Da steht ein Café mit Coca-Cola-Werbeschild, ein düsteres Mietshaus und später auch ein großes Herrenhaus mit Freitreppe, vor dem ein betriebsamer Gärtner Rasen mäht und in aller Ruhe sehr theatral die Papptannen bis zum Szenenapplaus beschneidet. Die Papp-Ästhetik dieser düster-skurrilen Comicwelt, die jüngere TheatermacherInnen wie etwa Ersan Mondtag beeinflusst haben dürfte, hat sich über die Jahre kaum verändert, zieht einen aber sofort wieder in ihren Bann.

Hinter der Bühne ist Meister Vinge in typischer Latexmaskierung und Adidas-Sportswear damit beschäftigt, Bilder zur Ausschmückung seiner „Dramaturgie-Zentrale“ an die Wände zu schrauben. Seine schnarrende Vocoder-verzerrte Stimme ist dabei kaum zu verstehen. Er huldigt aber vor allem dem Theater-„Kaiser“ und „Vater“ Carl. Gemeint ist der jüngst verstorbene Ex-Volksbühnendramaturg und Fußballfan Carl Hegemann, dem im Foyer ein paar Törtchen gewidmet sind. Der deutsche Fußball-Kaiser Beckenbauer ist später am Abend auch noch aus dem Off zu vernehmen. Da marschieren im Hintergrund Soldaten, und der Kaiser schwadroniert anlässlich des WM-Siegs 1990 gegen Argentinien, „dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird“. Ein Kaiser will auch Ibsens Peer Gynt sein. Ein kleiner Lügenbaron aus ärmlichen Verhältnissen, der sich eine ganze Welt zusammenfantasiert und sich von seiner Mutter Aase „Peer, du lügst“ anhören muss.

Ein anderer Darsteller (wer, ist trotz langer Besetzungsliste nicht zu erfahren) gibt hier den schmalen Peer im Joy-Division-Shirt und Burger-King-Kappe. Vinge liest Ibsens Nationalepos als Adoleszenz-Drama, den Versuch sich von der Übermutter Aase abzunabeln. Das sehen wir auch ganz plastisch in einer blutigen Geburtsszene hinter der Bühne, bei der die Aase-Darstellerin sich eine Babypuppe förmlich aus dem Leib schneidet. Sex und Gewalt gehören ganz selbstverständlich zu Vinges Bühnenperformance. Das ist meist nichts für schwache Nerven, wenn hier im Publikum auch meist die Belustigung über das bizarre Treiben auf der Bühne überwiegt. Mutter Aase prügelt ihren Sprössling in die Ecke des Kinderzimmers, das mit Batman-Vorhängen und vielen Kinoplakaten von männlichen Helden vollgestopft ist. Aber auch Munchs Madonna und das Album True Blue der gleichnamigen US-amerikanischen Popikone hängen hier. Peer ist bei Vinge ein moderner Kasper Hauser, der aus seinem Kellerverlies entkommen, sich die Welt auf seine Weise zu eigen machen will.

„To live and die in Gyntiania“ steht über der Bühne. Peer Gynt als König seiner eigenen Welt. Und in der gibt es vor allem die weibliche Verlockung in Form von alternden Kneipenschönheiten, denen der pubertierende Bub auf die Brüste ejakuliert, einer lasziven Troll-Schönheit, die hinter der Bühne ganzkörperbemalt wird und später Peer mit einem Tampon vor der Nase herumwedelt, oder der schüchternen püppchenhaften Solvejk mit Auto-Tune-Tremolo im Stimmchen, die in ihrer Nähstube die Erlösung verspricht. Vinges Peer Gynt ist ein Abend für Jungs, die nicht erwachsen werden wollen, das aber mit möglichst viel Getöse. Eine Ego-Show mit Dixi-Klo, das man Vinge hinter das Technikpult im Saal gestellt hat und dessen Tür der erboste Performer mit „Spielführer“-Armbinde immer wieder laut zuschlägt. Kacken auf der Bühne scheint nicht mehr erlaubt zu sein. Dafür gibt es aber die obligatorische In-den-Mund-pinkel-Nummer, bei der eine Frau in der ersten Reihe erschrocken aus dem Saal flüchtet. Dass der Peer-Performer minutenlang versucht sich sein Gummigenital mit einem Messer abzuschneiden, mit Axt und Holzklotz malträtiert oder zwischen allen möglichen Türen einklemmt, bleibt ein relativ vergeblicher Akt der Buße.

Hin und wieder sind Szenen aus Ibsen Werk zu erkennen. Die kurzen Textfetzen werden dabei in Endlosschleife wiederholt. Da ist der Ritt auf dem Bock, oder das Treffen mit der Troll-Prinzessin. Länger verweilen wir bei der Hochzeit auf dem Haegstad-Hof, und auch der große Krumme tritt kurz auf und brüllt mit tiefer Stimme immer wieder „Geh außenrum!“ „Ich selbst“ zu sein, wie der Krumme spricht, ist das große Problem Peer Gynts, der hier mit allerlei Vorbildern zu kämpfen hat. Vieles ist im Universum der Bühnenwelt versteckt. Von Merkel bis zu Trumps Maga. Ein prügelnder NYPD-Polizist nimmt den onaniewütigen Peer fest. Später werden Szenen aus Fassbinders Film Angst essen Seele auf nachgespielt. Peer spannt hier beim Sex durch das Zimmerfenster. Eine Art Frankenstein braut hausgemachten Met aus Ejakulat und Geld aus einem Kultursäckel wird verteilt. Das könnte man als Kritik an den Sparmaßnahmen des Berliner Senats begreifen, weswegen Vinge/Müller auch die ihnen angetragene Interimsintendanz an der Volksbühne abgesagt hatten.

Nicht immer ist klar, wo wir uns gerade befinden. Auch das ein Markenzeichen Frank Castorfs, den man hier vielleicht als Übervater nennen könnte, auch wenn mal von einer neuen Volksbühne die Rede ist. Der Dank für diesen ausufernden Abend gilt natürlich auch der Volksbühnencrew und den vielen Mitarbeitenden in den Werkstätten. Vinge küsst hier stellvertretend den mitwirkenden Bühnentechnikern die Füße, beschwert sich aber auch über die nur 8 Stunden Spielzeit und pinselt „Heute Sicherheit & Bühnentechnik“ an den Vorhang. Pausen muss man sich selbst einteilen, es gibt durchgängig Getränke und Pizza an der Bar im Foyer. Das ist ganz große Oper mit Musik von Wagner, Verdi und Strauss, vielleicht auch Griegs Schauspielmusik. Der sonstige düstere Soundtrack stammt von Komponist Trond Reinholdtsen. Das Spiel am Premierenabend bleibt im 2. Akt stecken und dürfte sich noch über die bis zum 5. Oktober angesetzte erste Vorstellungs-Staffel fortsetzen. Ob man wiederkommen oder überhaupt hingehen sollte, muss jede/r für sich selbst entscheiden.



PEER GYNT in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Julian Röder

Stefan Bock - 26. September 2025
ID 15478
PEER GYNT (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 25.09.2025)
von Henrik Ibsen

Regie: Vegard Vinge
Bühne, Ausstattung und Kostüme: Ida Müller
Von und mit: Gabriel Anschütz, Carla Aschenbrenner, Laslo Antal, Pelle Ask, Franz Beil, Maximilian Brauer, Susanne Bredenhöft, Martin Breine, Florian Brückner, Johannes Buchmann, Jens Crull, Torbjörn M. Davidsen, Maité Dietzel, Oleg Dimitrov, Paul Flagmeier, Jackson Ford, Helene Friedrich, Jakob Frumert, Janne Ganzer, Jakob Gerber, Thomas Göbel, Norman Gohl, Hannes Grotjohann, Florian Gwinner, Anna Hansen, Gustav Hedengren, Marko Helbig, Arnt Christian Hellum Teigen, Hanna Hilsdorf, Margarita Hoffmann, Gro Trolle Johannsen, Ioannis Kakaliagkos, Mattias Kåks, Louis Karlitzky, Lena Kemmler, Florian Klingner, Matthias Klütz, Jasmin Knitter, Elisabeth Knoblich, Harald Kolaas, Jan Krüger, Anne Kutzner, Emil Lewe, Sander Lilleeidet, Ida Müller, Marco Ober, Virginie Oswald, Norman Pelikan, Jana Perschmann, Alexandra Pommerening, Denise Potratz, Berit Prang, Spyridon Prosoparis, Maximilian Pross, Soffia Ralfsdóttir, Steffen Rausch, Adam Read, Trond Reinholdtsen, Anton Schneider, Florian Schneider und Hanna-Käthe Schulz
Sound und Komposition: Trond Reinholdtsen
Technische Direktion: Stefan Pelz
Technische Produktionsleitung: Simon Behringer und Dario Brinkmann
Konstruktion: Sascha Gierth und Josephine Kelch
Bühnentechnik: Paul Flagmeier, Jan Zanetti und Leiter
Beleuchtung: Kevin Sock
Leiter Abteilung Ton/Video: Klaus Dobbrick
Chefmaskenbildner: Spyridon Prosoparis
Chefrequisiteur: Moritz Marquardt
Leiterin Ausstattungsatelier: Jill Bertermann
Kostümdirektion: Ulrike Köhler
Damengewandmeisterin: Mina Fichte
Herrengewandmeisterinnen: Katrin Nowak, Maren Kutschick
Kostümmalerin: Teresa Hochfeld
Werkstättenleitung: Stefan Möllers
Tischlerei: Colin Mitchell
Schlosserei: Christian Schwarz
Plastik: Vivien Stewart, Anne Walther
Malsaal: Lena Kemmler, Caroline Wasner
Dekoabteilung: Antje Burckhardt, Grete Gehrke, Petra Stolze.
Premiere war am 25. September 2025
Weitere Termine: 29.09./ 01., 03., 05.10.2025


Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin


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