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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Mit ausgestreckter

Hand



Der große Wind der Zeit am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Katrin Ribbe

Bewertung:    



Das stärkste Bild kommt am Ende: Das Ensemble steht vorne an der Rampe und streckt einem imaginären Gegenüber – dem Publikum? – die Hand hin. Sie müssen einem ja, umso mehr angesichts säbelrasselnder Politiker und Generale, sympathisch sein, die Amos Oz, David Grossman oder eben auch Joshua Sobol, die sich für Frieden im Nahen Osten, freilich immer noch vorzugsweise zu jüdisch-israelischen Bedingungen, engagiert haben und engagieren.

Es waren zwei ungewöhnlich erfolgreiche Inszenierungen, die Sobol im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht haben: Weiningers Nacht in der Regie von Paulus Manker und Ghetto in der Regie von Peter Zadek. Jetzt hat Stephan Kimmig am Schauspiel Stuttgart eine Bühnenbearbeitung des vor vier Jahren erschienenen umfangreichen Romans Der große Wind der Zeit durch den mittlerweile 84-jährigen Autor zur Uraufführung gebracht. Sobol verwebt darin mehrere jüdische Lebensgeschichten aus der Zeit zwischen der Weimarer Republik bis in die Gegenwart. Er hat sich viel vorgenommen. Und was die frühen dreißiger Jahre betrifft, konkurriert er mit geringem Gewinn mit dem Musical Cabaret und der aufwendigen Fernsehserie Babylon Berlin. Zwar mögen die ständigen Vergleiche intellektuell bescheiden ausgerüsteter Journalisten mit der Fernsehroutine nerven, aber es ist nun eine bedauerliche Tatsache, dass die Generation von heute eher durch das Fernsehen sozialisiert wurde als durch das Theater und von dort seine Maßstäbe bezieht.

Das ganz große dramatische Werk ist es nicht geworden. Zu aufdringlich sind die Klischees am Rande der Kolportage, zu holzschnittartig die Motive, zu kärglich die von Michael Raab aus dem Englischen übersetzten Dialoge. Die Szene etwa, in der sich ein Ehepaar weigert, angesichts des Nationalsozialismus von Wien nach Palästina zu emigrieren, und Hitler eine politische Überlebenschance von maximal drei Jahren gibt, entspricht zwar der historischen Wahrheit, ist aber als dramatische Situation ausgereizt und schon differenzierter gestaltet worden. Stephan Kimmig holt, im Einheitsbühnenbild von Katja Haß, das Einblicke aus unterschiedlichen Perspektiven gestattet, heraus, was sich aus dem spröden Material herausholen lässt. Camilla Dombrowsky, Paula Skorupa, Sebastian Röhrle und Felix Strobel verausgaben sich beim Versuch, aus den allzu schematischen Entwürfen Figuren zu gestalten. Die übrigen, meist nur episodischen Rollen teilen sich Therese Dörr, David Müller, Gábor Biedermann, Tim Bülow und Teresa Annina Korfmacher.

Der Stuttgarter Intendant Burkhard C. Kosminski hat ein gesteigertes Interesse an Israel, das sich in Engagements und im Spielplan spiegelt. Aktuell ist der Konflikt zwischen dem israelischen Staat und den Palästinensern wohl das Thema, das die politisch interessierten Menschen in Deutschland neben dem Ukraine-Krieg am meisten bewegt. Ob Der große Wind der Zeit etwas beiträgt zum Verständnis dieses Konflikts und seiner Vorgeschichte, darf bezweifelt werden.

Eine der Hauptfiguren, Eva, sagt zu ihrem Freund-Feind Mahmud: „Du begreifst nicht, was ihr euch selbst angetan habt dadurch, dass ihr Millionen von Juden verwehrt habt, ins Land Israel einzuwandern; dadurch werdet ihr selbst zu Teilhabern an der Ermordung der europäischen Juden, die die Nazis planen.“ Reicht das für das Verständnis des scheinbar unüberwindbaren Hasses zwischen Juden und Palästinensern? Wie ist das mit all jenen Ländern und Völkern, die von Hitler bedrohten Juden die Einwanderung verwehrt haben, bis nur noch Shanghai als Fluchtmöglichkeit übrig blieb? Waren sie alle Teilhaber an der Ermordung der europäischen Juden? Wenn ja: was sind die Konsequenzen? Und wie steht es um die Staaten und deren Bevölkerung, die heute die Einwanderung von Menschen verhindern wollen, deren Ermordung längst schon mehr ist als eine Planung?

Ob jene, denen das Ensemble die Hand zustreckt, darüber nachdenken?



Der große Wind der Zeit am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Katrin Ribbe

Thomas Rothschild – 25. Februar 2024
ID 14629
DER GROSSE WIND DER ZEIT
nach dem Roman von Joshua Sobol

Inszenierung: Stephan Kimmig
Bühne: Katja Haß
Kostüme: Anja Rabes
Live-Musik: Max Braun
Choreografie: Michéle Seydoux
Licht: Sebastian Isbert
Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger
Mit: Camille Dombrowsky, Paula Skorupa, Felix Strobel, Sebastian Röhrle, Therese Dörr, David Müller, Gábor Biedermann, Tim Bülow und Teresa Annina Korfmacher
Premiere war am 24. Februar 2024.
Weitere Termine: 25., 28.02./ 02., 08., 14., 18., 25., 27.03./ 18.04.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de


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