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Premierenkritik

Die Eltern

und der

Supergau



Ursula Grossenbacher, Birte Schrein und Wilhelm Eilers in Die Kinder von Lucy Kirkwood - am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Bewertung:    



Zwei Akteure stehen vor Beginn unbewegt auf der Bühne. Ihre Köpfe sind unter großen Lampenschirmen verborgen. Sie tragen Krawatten und extravagante Kostüme mit witzigen Details.

Theaterrauch säumt die Bühne. Am Boden neben der Bühne verteilt liegen Stoffteile lebensgroßer Kuhkörper mit Köpfen, die ins Publikum blicken. Sie dienen später als Schlafgelegenheit und die Lampenschirme als Rückzugsort. Gleichzeitig rufen sie zerschlissene Existenzen in Erinnerung. Ausstatterin Dorothee Curio deutet durch Bemalungen das Meer auf Bühnenelementen an, die in Schräglage positioniert sind. Die Handlung spielt in einem Haus am Meer.

Die Kinder heißt Lucy Kirkwoods Drama, bei dem Kinder jedoch nicht anwesend sind. Kinderstimmen sind in Jan Neumanns Bonner Inszenierung jedoch aus dem Off zu hören, wenn sie manchmal Regieanweisungen, wie „Pause“ oder „das Telefon klingelt“ vorlesen. Dadurch werden immer wieder Momente des Abstands geschaffen zu den drei älteren Figuren auf der Bühne. Im Aufeinandertreffen dieser drei Handlungsträger werden allmählich in einer Art Vexierspiel Lebenswege, Wünsche, Hoffnungen, Illusionen und Lügen erkennbar. Wünsche nach Kindern und deren Bedeutung im Leben der Eltern werden reflektiert. Die 1984 geborene Britin Kirkwood verbindet das Persönliche geschickt mit dem Beruflichen, der Umwelt und einer atomaren Katastrophe. Die Themenfelder ihres Dramas treten in einer Sprache (deutsch übersetzt von Corinna Brocher) zutage, die leichtfüßig mit viel Zynismus und schwarzem Humor angereichert ist. Anfängliche Spitzen zwischen den Figuren offenbaren immer mehr tiefe Dissonanzen.

Die pensionierten Nuklearingenieure Hazel (Birte Schrein) und Robin (Wilhelm Eilers) leben in einem Wochenendhaus am Meer am Rand einer radioaktiv verseuchten Sperrzone. Plötzlich taucht Rose (Ursula Grossenbacher), eine befreundete Nuklearphysikerin, auf, nachdem sie und das Paar sich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen haben. Die prekäre Existenz des Paares gerät durch das unheilversprechende Auftauchen Roses aus den Fugen. Möchte Rose ihre einstige Affäre mit Hazels Ehemann Robin wieder aufleben lassen, oder hat sie ein gänzlich anderes Ziel?

Das intime Kammerspiel entwickelt sich langsam; zunächst begegnen sich nur Hazel und Rose. Sie schwelgen in der gemeinsamen Vergangenheit. Auch später, als Robin im grellorangen Dress mit passender Fliege hinzukommt, erscheint etwa die Pärchenbildung in der Dreierkonstellation nicht immer ganz klar. Mal flirtet Robin mit Rose, dann opponieren die beiden Damen gegenüber dem Herrn. Es gibt Eifersüchteleien und Sticheleien untereinander. Bald geht es um konträre Positionen in einem moralischen Dilemma rund um eine gesamtgesellschaftliche soziale Verantwortung der Nuklearingenieure bezüglich des nahe gelegenen Atomkraftwerks.

Ausstatterin Curio schafft andeutungsreiche Bezüge durch die Frisuren der Akteure. Robin erinnert mit seiner graugelockten, blondvergilbten Haarpracht an den gealterten Rainer Langhans, einem Mitbegründer der für alternative Lebensentwürfe und provokante Aktionen in den späten 1960er Jahren berühmten Kommune K1. Hazel trägt die Haare stufenweise zweifarbig wie Rogue aus der Serie X-Men. X-Strahlen oder Röntgenstrahlung führte bei Protagonisten dieser US-Serie zu Mutationen, die besondere Fähigkeiten und Problemen mit sich brachten. Rose schließlich wird irgendwann die platinblonde Bob-Perücke heruntergerissen, und es werden ihre wenigen, nach einer Chemotherapie verbliebenen Haare sichtbar.

Auch sonst lebt die Aufführung von kuriosen Einfällen und komischen Wendungen.
Hazel spricht anfangs ununterbrochen, mal betulich, mal aufgebracht, stets übersteigert und unterbricht dabei auch andere. Mit einem Tuch wischt sie erst Nasenblut unter Roses Nase auf, um später damit auch blutigen Auswurf von Robin aufzufangen, um sogleich mit dem gleichen Tuch den Boden und andere Bühnendetails zu wischen. Diese unermüdliche, aber vordergründig meist absurde Reinigungsbewegung mit einem offensichtlich bereits kontaminierten Tuch strahlt häusliche Effizienz aus. Dies korrespondiert dabei mit Hazels Assoziationen über radioaktive Strahlung als spannungsvoller „schwarzfarbener Glitter“ in der Luft. Aufgrund von Stromrationierung, Wasser- und Nahrungsmittelknappheit sowie Schwierigkeiten des Kanalabflusses gerät Hazel an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und schreit bald ihre unterdrückte Wut heraus.

Zu Rose sagt Hazel, wenn sie über ihre Kinder und Enkelkinder sowie ihre Lebenserfahrungen spricht, bedeutungsvoll Sätze wie: "Wenn du nicht wachsen willst, dann lebe nicht" oder "Ich weiß nicht, wie man weniger wollen kann". Rose hingegen möchte Hazel dazu bewegen, Probleme, die beide mitverursacht haben, für die nächste Generation zu lösen. Nur bei Yoga-Atemübungen, die Rose bald anerkennend mitpraktiziert, kommt Hazel zur Ruhe. Robin kommentiert diese sogleich giftig und schalkhaft, auch im Weltenende durch atomare Strahlung möge Hazel ihre Sonne grüßen und im herabschauenden Hund ihren Kopf senken. Bald scheint er nicht mehr nur interessiert, seine romantische Annäherung mit Rose vor den Augen seiner Ehefrau zu erneuern, sondern zeugt Anerkennung für Roses Vorhaben.

Lucy Kirkwood inspirierte zu ihrer leichtfüßigen Komödie das Beispiel einer pensionierten Belegschaft, die 2011 nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima zurückkehrte, um die Anlage aufzuräumen. Neben anfangs adressierten Themen wie Altern, der Ehe, sexuellen Rivalitäten geht es später insbesondere um das katastrophale Eingreifen des Menschen in die Natur, aber auch um Verzicht für mehr Klimaschutz. Die Aufführung, die Fragen zur Generationengerechtigkeit, Moral, Schuld, der Verantwortung und der Lebenserwartung adressiert, zieht einen besonderen Suspense auch aus kurzen Schreckmomenten der Schwachheit aller drei Figuren. Jan Neumann und sein Team zeigen Kirkwoods pointiertes Drama liebevoll angereichert um witzige Ideen und sehenswerte Details.



Die Kinder am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 21. Januar 2024
ID 14568
DIE KINDER (Werkstatt, 19.01.2024)
von Lucy Kirkwood

Regie: Jan Neumann
Musik: Camill Jammal
Ausstattung: Dorothee Curio
Licht: Johanna Salz
Dramaturgie: Carmen Wolfram
Mit: Ursula Grossenbacher (als Rose), Birte Schrein (als Hazel) und Wilhelm Eilers (als Robin)
DEA am Staatstheater Braunschweig: 28. September 2019
Premiere am Theater Bonn: 19. Januar 2024
Weitere Termine: 24., 26.1./ 1., 16., 22., 24.2./ 15., 21.3.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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