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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Russisches

Bilder-

Roulette



Der Idiot am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Sebastian Hartmann hat bereits am Staatsschauspiel Dresden zwei Romane von Fjodor Dostojewskij auf sehr unterschiedliche Weise inszeniert. Zuerst Erniedrigte und Beleidigte als Slapsticktheater mit Livemalerei und Textsplittern aus dem Roman. In Schuld und Sühne brachte Hartmann dann mehr ein assoziativen Videobildgewitter auf die Bühne, bei dem die SchauspielerInnen den großen Schmerz an der Welt und die Schuld der gesamten Menschheit an Krieg und Elend zu performen hatten. Durchsetzt waren die Abende immer wieder mit Passagen aus Wolfram Lotz‘ Hamburger Poetikvorlesung und seiner Rede zum unmöglichen Theater. Diese Art des Theaters scheint dem Regisseur wichtig zu sein. Nun scheint es aber auch, als hätte er bei seinem dritten Anlauf, der Inszenierung von Dostojewskis wohl bekanntesten Romans Der Idiot, beide Dresdner Versuche in eins gepackt hat. Herausgekommen ist - wie eigentlich immer - ein assoziatives Gesamtkunstwerk aus Bühnenbild, Videobildern, Textfragmenten und entgrenzter Performance. Allerdings für das Publikum auf eine recht disparate Weise verhackstückt in drei Teilen mit viereinhalbstündiger Länge und zwei Pausen.

Eine Romanhandlung stringent zu erzählen, ist bekanntlich die Sache von Sebastian Hartmann nicht. Er denkt sich die Inszenierung als eine „zärtliche Reise in den Kopf Dostojewskijs, hin zu seinen Obsessionen, Begierden und Ängsten“, wie es im Ankündigungstext heißt. Für Hartmann erweist sich die Hauptfigur des Fürsten Myschkin also auch als Alter Ego Dostojewskijs, da einiges im Roman persönlichem Erleben des Autors entspringt. Fragt sich nur, ob das Publikum überhaupt im Kopf Dostojewskijs sein möchte. In diesem Fall macht es uns der Regisseur jedenfalls nicht gerade einfach, ihm bei seiner Kopf-Reise zu folgen, was bereits im ersten Teil zu etwas Schwund im Saal führt.

Elias Ahrens hält zu Beginn einen Monolog über die Wahrheit und das Leben für das Glück aller Menschen, das man meinen möchte, er verkörpere jenen Fürsten Myschkin, der von einer Reise in die Schweiz, wo er von seiner Epilepsie geheilt werden sollte, nach Russland zurückkehrt und dort von der Gesellschaft wegen seiner ehrlichen, kindlichen Natur als Sonderling und „Idiot“ behandelt wird. Das Konzept Hartmanns sieht aber nicht eine Hauptfigur vor, sondern lässt das gesamte Ensemble den „Idioten“ spielen. Ein Aufeinanderfolgen weiterer Monologe mit Textsplittern über Liebe ohne Egoismus, die Unmöglichkeit von Vollkommenheit, das Weitergeben von Ideen und die Angst, das nach dem Tod keine Spur von einem bleibt. Die Themen Isolation und Tod durchziehen diese Texte. Hin und wieder erkennt man auch Szenen aus dem Roman wie die gemeinsame Zugfahrt von Myschkin und seinem Antagonisten Rogoschin, oder die Geschichte des alten Mannes mit dem Hund, der hier tatsächlich von René Lüdicke an der Leine geführt wird. Nach der Pause gibt es dazu die Zusammenfassung von Niklas Wetzel, die er in gebrochenem Akzent-Schnellsprech und mit einem Videogewitter aus Zitaten und Comicbildern im Hintergrund herunterrattert.

Die Bühne hat Sebastian Hartmann wieder selbst gestaltet. Zwei Tipis und eine rote Barockfassade kreiseln auf der Drehbühne des Deutschen Theater. Die Kostüme von Adriana Braga Peretzki sind schwarz oder weiß. Auch die Männer tragen zum Teil Kleider und fantastische Federhüte. Mit der bei Hartmann häufig eingesetzten digitalen Livekamera wird das Geschehen immer wieder auf fahrbare Screens übertragen. Animierte Videobilder von Tilo Baumgärtel auf der Bühnenrückwand und Livemusik von Arno Waschk und Samuel Wiese unterstützen das szenische Geschehen auf der Bühne. Es entstehen dabei auch ikonografische Bilder wie zum Beispiel das im Roman beschriebene Holbein-Gemälde Christus im Grab. Der ziemlich pathosbeladene Bilderkitsch kulminiert in einer Hängeparty der blutbesudelt an Schnüren hochgezogen Linda Pöppel, die wie ein leidender Christus einen verzweifelten Monolog hält, in dem es um Glauben, Vergebung, Schuld, das Scheitern des wissenschaftlichen Fortschritts und die Menschheit leitende Ideen geht.

Hartmann versucht das Pathos durch szenische Einfälle zu brechen, wie etwa das aus der Rolle fallen von Ruth Reinecke, die unter dem Einwurf „Linda friert!“ alle auffordert, die in transparente Plastikfolie eingewickelte Schauspielerin aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Es folgt im letzten Teil ein szenisches Videogewitter, das Adolf Hitler, Nazi-Jubelaufmärsche und Kriegsbilder zum apokalyptischen Dauerloop vereint. Für ein minutenlanges Knallkonzert mit Platzpatronen gab es schon in der Pause kostenlosen Hörschutz. Russisches Roulette mit Dostojewskij. Nicht jeder Geistesblitz kann ein Volltreffer sein. Danach ist die Luft ziemlich raus und die von Ruth Reinecke dargebrachte Erzählung Myschkins vom Bauernmädchen Marie wirkt wie ein Nachklapp in Sachen Nächstenliebe. Da ist einem die ganze Chose um epileptische Anfälle und Lichtblitze eines höheren Seins aber schon relativ piepegal, der „rote Faden“ war bereits wesentlich früher abhandengekommen.



Der Idiot am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair

Stefan Bock - 6. November 2021
ID 13274
DER IDIOT (Deutsches Theater Berlin, 03.11.2021)
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: Samuel Wiese
Bildregie: Voxi Bärenklau
Animation: Tilo Baumgärtel
Dramaturgie: Claus Caesar
Mit: Elias Arens, Bea Brocks, Manuel Harder, Peter René Lüdicke, Linda Pöppel, Ruth Reinecke, Birgit Unterweger und Niklas Wetzel sowie den Live-Musikern Arno Waschk und Samuel Wiese
Premiere war am 3. November 2021.
Weitere Termine: 10., 14., 17.11. / 07., 14.12.2021


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/


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