Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Freie Szene

Inszeniertes

Versepos von

Anne Weber



Annette, ein Heldinnenepos an der Vagantenbühne Berlin | Foto (C) Niels Wehr

Bewertung:    



Anne Beaumanoir, genannt Anette, wäre 2023 100 Jahre alt geworden. Die deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber hat der französischen Résistance-Kämpferin und Unterstützerin der Nationalen Befreiungsfront im algerischen Unabhängigkeitskrieg noch zu Lebzeiten eine ungewöhnliche Biografie mit dem Titel Annette, ein Heldinnenepos gewidmet. Die literarisch in Versform verfasste Lebensgeschichte dieser widerständigen und furchtlosen Frau erhielt 2020 den Deutschen Buchpreis und wird seitdem auch immer wieder an deutschsprachigen Bühnen aufgeführt. Für die Berliner Vagantenbühne hat die Regisseurin Kathrin Mayr eine Textfassung des Autors, Regisseurs, Theatermusikers und Dramaturgen Clemens Mädge inszeniert. Das Team arbeitete hier bereits 2023 für die Bühnen-Adaption von Heinrich Bölls Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum zusammen.

Anne Webers Versepos eignet sich nicht unbedingt auf den ersten Blick für eine Bühnenbearbeitung. Das Interesse der Theater liegt sicher am spannenden und wechselvollen Lebenslauf Beaumanoirs, den Anne Weber von der Kindheit Anettes in der Bretagne über ihren Eintritt in die Kommunistische Partei Frankreichs und die verschiedenen Etappen als Résistance-Kämpferin gegen die Besatzung Nazi-Deutschlands bis zu ihrem Wirken nach dem Krieg, dem Medizinstudium und dem erneuten Kampf, diesmal für die Unabhängigkeit Algeriens auf der Seite der FLN erzählt. Ein Leben, das geprägt ist vom ständigen Einsatz für eine Idee von Freiheit und Gerechtigkeit, die sich nicht immer verwirklicht. Ein ständiges Abwegen der Mittel zum Kampf und sei es letztendlich der Terror.

Nach dem Krieg eine Heldin der Résistance, wendet sich Anette einige Jahre später gegen die eigene Regierung und die koloniale Unterdrückung der algerischen Bevölkerung, wofür sie zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wird. Der Strafe kann sich die wegen ihrer Schwangerschaft aus der Untersuchungshaft Entlassene durch Flucht nach Tunesien entziehen, wo sie in die Kreise der algerischen Exilregierung um Ahmed Ben Bella gerät und später als Ärztin am Aufbau des algerischen Gesundheitswesens mithilft. Anettes Leben ist auch eines voll von Entbehrungen. Ihr erster Geliebter, ein aus Deutschland geflohenen Jude und wie sie Résistance-Kämpfer, wird von französischen Kollaborateuren ermordet. Ihren zweiten Ehmann und die drei gemeinsamen Kinder muss sie auf der Flucht in Frankreich zurücklassen. Und auch ihre dritte Ehe in Algerien geht schließlich in die Brüche.

Wie bringt man so eine unglaubliche Geschichte auf die Bühne? Regisseurin Kathrin Mayr hat sich für eine Besetzung mit drei Schauspielerinnen entschieden. Magdalene Artelt, Marie-Thérèse Fontheim und Anne Hoffmann agieren in grau-grün-olivfarbenen Overalls, ähnlich den Uniformen von Guerilla-Kämpfern, vor einer pyramidenförmig zulaufenden Bühnentreppe (Bühne/Kostüm: Johanna Bajohr). Eine ziemlich geschlossene und überzeugende Ensemble-Leistung. Clemens Mädge lässt in seiner Stück-Fassung erstaunlich wenig weg. Der Plot bleibt schlüssig bis zum Schluss, bei dem auch die Epos-Autorin Weber vor der Fülle der Ereignisse und Stationen im Leben Annettes kapituliert. Das wirkt auch auf der Bühne etwas abrupt. Aber bis dahin fächert der Abend die reichhaltige Palette des widerständigen Lebens einer Frau auf, wie es heute eher selten zu finden ist.

Das Trio nutzt dabei die Treppe immer wieder als einen Berg, den es zu erklimmen gibt, und arbeitet sich an den Stufen im Vor- und Rückwärtsgang ab. Genau wie das Leben Anettes zuerst bei den Eltern und der Großmutter, Mémère genannt, der sie als Kind lesen und schreiben beibringt. Gemeinsam mit der Mutter unterstützt sie Frauen von Spanienkämpfern, die nach 1936 nach Frankreich geflohen sind. Mit 19 tritt sie in die Kommunistische Partei ein und schließt sich der Résistance an. Gegen den Willen der Partei versteckt sie verfolgte Juden und arbeitet später auch als sogenanntes U-Boot für die Kommunisten beim Gaulistischen Widerstand. Nach dem Krieg arbeitet sie in einem Komitee, das über Schuld oder Nichtschuld von vermeintlichen Kollaborateuren entscheiden soll.

Szenisch ist das zu dritt natürlich schwer darzustellen. So gibt es keine eindeutige Rollenverteilung. Die Darstellerinnen erzählen meist abwechselnd und sprechen dabei sich oder auch mal fragend das Publikum an, so dass man immer direkt im Geschehen ist. Unterstützt wird der Abend durch Live-Projektionen der Gesichter auf die Treppe und mit einer Sounduntermalung von Clemens Mädge. Inhaltlich umfasst der Abend vor allem die Zeit vor und nach dem Krieg. Annette will weiter für die Idee der Freiheit kämpfen. Aus einer Übersiedlung mit ihrem ersten Mann nach Indochina wird nichts. Ihre neue Aufgabe findet Annette mit ihrem zweiten Mann, einem Kommunisten, in der Unterstützung durch Botendienste für die FLN. Auch hier sieht man die drei Darstellerinnen wieder mit und gegen sich um die Wahl der Mittel ringen. Nicht nur die französische Regierung, auch die algerische Freiheitbewegung foltert. Trotzdem setzt Annette sich als Ärztin weiter für sie ein. Später geht die Reise noch in die Schweiz, um in der Nähe der Kinder zu sein, da sie weiterhin nicht amnestiert wird.

Hat man es hier mit einer Heldin zu tun? Woran macht sich Heldentum fest und wer bestimmt das? Wie der Roman lässt der Abend die Lebensgeschichte Annettes dafür sprechen, was weit mehr als nur eine erweiterte szenische Lesung ist. Wie im Roman markiert das Ende des Abends ein kleiner Vergleich mit dem ebenso an Algerien gebundenen Schriftsteller Albert Camus. „Camus war friedlich; Annette war es nicht.“ Das Schreiben in die Tat umsetzen - auch ein Vergleich mit dem antiken Sisyphos. Ein Leben als ständiger Kampf. Und trotz aller Mühen sollte man ihn/sie sich wohl am besten glücklich vorstellen. Ein Fazit, das natürlich auch als Appell ans Publikum gedacht ist.



Annette, ein Heldinnenepos an der Vagantenbühne Berlin | Foto (C) Niels Wehr

p. k. - 12. April 2024
ID 14696
ANNETTE, EIN HELDINNENEPOS (Vagantenbühne, 09.04.2024)
nach dem Roman von Anne Weber

Regie: Kathrin Mayr
Fassung & Sound: Clemens Mädge
Bühne & Kostüm: Johanna Bajohr
Dramaturgie: Lea Mantel
Mit: Magdalene Artelt, Marie-Thérèse Fontheim, Anne Hoffmann
Premiere war am 9. April 2024.
Weitere Termine: 11., 30.04. / 15., 16.05. / 21., 22.06.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.vaganten.de/


Freie Szene

Neue Stücke

Premieren (an Staats- und Stadttheatern)



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:



THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

THEATERTREFFEN

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)