Charly Hübner debütiert
als Regisseur mit
Roland Schimmelpfennigs
Krieg und Frieden
(nach Tolstoi)
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Krieg und Frieden am Theater Magdeburg | Foto (C) Kerstin Schomburg
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Bewertung:
Charly Hübner, bekannt als Schauspieler aus dem TV, als Ensemblemitglied am Deutschen Schauspielhaus Hamburg sowie als Musiker und Dokumentarfilmer, hat nun am Theater Magdeburg auch sein Debut als Schauspielregisseur gegeben. Nichts geringeres als Krieg und Frieden sollte es sein. Aber nicht in einer Adaption des großen Vierbänders von Lew Tolstoi, sondern in einer bereits 2008 für das Wiener Burgtheater entstandenen eigenen Textfassung des Dramatikers und Freund Hübners Roland Schimmelpfennig, der erst 2023 einen recht erfolgreichen Antikenmehrteiler für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg geschrieben hat. Die Tolstoi-Bearbeitung für den 2009 verstorben Jürgen Gosch kam damals nicht mehr zustande, der Text war weiter zur Uraufführung frei und schien Charly Hübner gerade wieder sehr aktuell. Zwei Jahre hat er an der jetzigen Spielfassung gearbeitet.
Ganze 4 Stunden inklusive einer Pause dauert die Inszenierung Hübners an der Kammer 1 im Schauspielhaus Magdeburg. Schimmelpfennig hat das Epos um die Moskauer und St. Petersburger Adelsfamilien Bolkonski, Besuchow, Kuragin und Rostow während der Napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark gerafft, und Hübner und sein Dramaturg Bastian Lomsché haben als heutiges Äquivalent und Rahmenhandlung eine aktuelle Magdeburger Familie hinzuerfunden. Mutter Marianne (Iris Albrecht) wird 80 und von ihrer Familie mit einer Party fast zu Tode überrascht. Eine Familie, die in ihren Ansichten nicht unterschiedlicher sein kann. Vom spießigen Ossi-Ehepaar mit Sohn bei der Bundeswehr, der bald nach Litauen abkommandiert wird, über linke Staatsanwaltstochter aus Köln mit coolem Rappersohn bis zum Lederjackenmacker mit Alkoholproblem und Muttikomplex ist hier alles am Multifunktionstisch mit Wachstuchdecke vereint. Dass die bald alle bezüglich Meinungskorridor, Bedrohungslage, Nazis und Antifa übereinander herfallen, ist vorprogrammiert und katapultiert die erschrockene Jubilarin wie ein Déjà-vu als schwangere Lisa ins alte Russland.
Das ist als Einstieg gar nicht schlecht gedacht und führt direkt in den Salon von Anna Pawlowna Scherer (Bettina Schneider) nach St. Petersburg, wo noch wesentlich zivilisierter über Krieg und Frieden philosophiert wird. Der Krieg mit Napoleon scheint da noch weit entfernt und wir lernen erstmal nacheinander die wichtigsten ProtagonistInnen der Familien in ihren Häusern kennen. Da wird viel geplaudert, Champagner getrunken und getänzelt. Die Herren tragen rote, die Damen weiße Kostüme (Clemens Leander). Mal klassisch mit Schostakowitsch, mal mit Katjuscha zum Akkordeon werden die Szenen begleitet. Da läuft auch ein verkleideter russischer Bär zum Schabernack der jungen Offiziere über die Bühne. Die Regie hat recht viele Einfälle. Auch den, den Körperertüchtigung liebenden, preußisch steifen Fürst Bolkonski und den nach einer Mitgift für seinen Sohn buhlenden Fürst Kuragin von einem Darsteller spielen zu lassen. Dafür setzt sich Rainer Frank als Bolkonski seine Pickelhaube mal auf dann als Kuragin wieder ab. Auch sonst dürfte man als des Stoffs nicht ganz mächtig so einige Probleme bei der Zuordnung der ständig wechselnden Rollen haben.
Im Mittelpunkt steht auch hier der junge, aus Paris heimgekehrte Schön- und Freigeist Pierre Besuchow (Nora Buzalka), der von seinem sterbenden Vater, Graf Besuchow (schön röchelnd: Iris Albrecht), als Alleinerbe eingesetzt wird und fortan mit dem Geld, der Liebe, Moral und seiner andauernden Sinnsuche hadert. Die Schicksale der anderen kriegstüchtigen Söhne der Familien Bolkonski, Rostow und Kuragin sowie ihrer zugehörigen Gattinnen und Liebschaften werden mehr wie beim lustigen Ringelreigen an der Rampe dargeboten. Für Figurenentwicklung bleibt auch in 4 Stunden nicht viel Zeit. Schimmelpfennigs Textfassung versucht die wichtigsten Stationen des Romans abzuhandeln. Drei der vielen Schlachten hat man sich für den Abend ausgesucht. Zwischen den Friedensszenen geht es in die Schlachten von Schöngrabern vor Wien, Austerlitz und schließlich in die blutigste nach Borodino. Da wird ein Podest hereingeschoben und das Ensemble schildert von oben mal einzeln, meist aber chorisch die schrecklichen Ereignisse, was nicht ohne Wirkung bleibt.
Der Jux bei heimischen Bällen, Liebeleien, Eheanbahnungen und einem Slapstickduell zwischen Pierre und Dolochow (Anton Andreew) wird hart vom Schrecken des Kriegs mit Hass, Gewalt und Sterben kontrastiert. Ganz ernst nimmt Hübner die Sache dann aber doch nicht, wenn er Zar Alexander (Niklas Hummel) und Napoleon (Anton Andreew) als miteinander um Europa feilschende Witzfiguren darstellen lässt, denen auch noch eine Helmut-Kohl-Parodie (Bettina Schneider) aus der Zukunft die europäischen Leviten lesen will. Man hätte auch Trump, Putin und dazwischen irgendeinen anderen europäischen Politkasper hinstellen können. Machtgehabe gegen vergebliche Diplomatie. So anders sind da die aktuellen Konstellationen nicht. Dem Publikum, falls es den Groschen nicht fallen hört, wird die heutige Sicht auf Krieg und Frieden noch in ein paar Rapsongs, geschrieben von Hendrik Bolz und Johannes Aue, eingehämmert. Da springen auch mal drei DarstellerInnen als Pussy-Riot-Chor über die Bühne. „Schießen ist jetzt woke, Frieden ist jetzt rechts.“
In der Pause laufen vom Band Tolstois Text zu Patriotismus und Regierung sowie dessen Rede gegen den Krieg, eingelesen von Charly Hübner. Danach geht es weiter. „Der Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen.“ Das klingt wie ein fatalistisches Diktum für jede neue Generation. „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin.“ Der Slogan der Friedensbewegung aus den 1980er Jahren nach Versen des amerikanischen Schriftstellers Carl Sandburg findet sich etwas anders schon bei Tolstoi, wenn er den pflichtbewussten Andrej Bolkonski sagen lässt: „Wenn alle Menschen nur nach Maßgabe ihrer Überzeugungen Krieg führten, so würde es keinen Krieg geben.“ Aber so ist es eben nicht. Daran wird vermutlich auch Hübners spielfreudig überbordende Inszenierung nichts ändern. Am Ende trifft sich wieder die Magdeburger Familie zur harmonischen Grillparty mit Freiheits-Rap: „Lass alles los!“ Da ist man doch ganz froh über so ein Angebot, auch wenn uns das Thema noch lange packen wird.
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Krieg und Frieden am Theater Magdeburg | Foto (C) Kerstin Schomburg
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Stefan Bock - 3. Juni 2025 ID 15289
KRIEG UND FRIEDEN (Kammer 1, 01.06.2025)
von Roland Schimmelpfennig nach Lew Nikolajewitsch Tolstoi mit Texten von Bastian Lomsché und Charly Hübner
Regie: Charly Hübner
Bühne: Alexandre Corazzola
Kostüm: Clemens Leander
Co-Kostümbild: Rahel Künzi
Musik: Hendrik Bolz, Johannes Aue
Dramaturgie: Bastian Lomsché
Mit: Iris Albrecht, Anton Andreew, Marie-Joelle Blazejewski, Nora Buzalka, Rainer Frank, Niklas Hummel, Philipp Kronenberg, Michael Ruchter, Bettina Schneider und Isabel Will
UA am Theater Magdeburg: 30. Mai 2025
Weiterer Termin: 15.06.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-magdeburg.de
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