Die hilflosen
Hände des
Nörglers
DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT von Karl Kraus
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Bewertung:
Karl Kraus hat Die letzten Tage der Menschheit bekanntlich „einem Marstheater zugedacht“, will heißen, sie seien für ein Theater traditionellen Zuschnitts nicht spielbar. Tatsächlich wurde das Stück in seiner Gänze bis heute nicht aufgeführt, und es dauerte rund ein halbes Jahrhundert, bis es zur ersten szenischen Realisierung von 42 der 220 Szenen kam. Zehn Jahre später inszenierte Hans Hollmann an zwei Abenden in Basel eine Fassung, die seither von keinem Regisseur übertroffen wurde. 1980 wiederholte Hollmann mit einer anderen Besetzung bei den Wiener Festwochen sein Experiment. Mittlerweile gibt es, auch außerhalb des deutschsprachigen Raums, zahlreiche spektakuläre Versuche, das dramatische Ungetüm zu zähmen, unter anderem von Luca Ronconi, Johann Kresnik, Robert Wilson und Paulus Manker. Erwähnt werden soll noch die Lesung von Helmut Qualtinger, die auf fünf CDs vorliegt und an der sich auch jede Bühnenfassung messen lassen muss.
Die Salzburger Festspiele zeigten 2014 erstmals Die letzten Tage der Menschheit im engen Landestheater, dem absoluten Gegenteil eines Marstheaters. Regisseur war Georg Schmiedleitner. Jetzt, nur elf Jahre danach, machen sie einen zweiten Anlauf, auf der räumlich großzügigeren Perner-Insel in Hallein, in der Regie von Dušan David Pařízek und, wie schon 2014, als Koproduktion mit dem Burgtheater, zu dessen regelmäßigen Gästen der Barbier des europäischen Theaters – Figaro dort! Figaro da! Figaro hier! Figaro da! – auch ohne Salzburg zählt, also eigentlich Business as Usual. Dörte Lyssewski war 2014 dabei und ist es jetzt wieder. Zugleich hat der Salzburger Verlag Jung und Jung eine Neuausgabe der Letzten Tage der Menschheit mit einem umfangreichen Essay von Franz Schuh veröffentlicht. Das war eine gute Wahl, denn während die Bewunderer von, sagen wir, James Joyce oder Thomas Mann kaum auf die Idee kämen, zu schreiben wie das Objekt ihrer Zuneigung, sind die Verehrer von Karl Kraus von Hermann L. Gremliza bis eben auch zu Franz Schuh fast immer ausgewiesene Meister seiner Methode und seines Stils.
Pařízek tendiert mal zum Kabarett, aber Karl Kraus ist kein Vorläufer von Gerhard Bronner, Jan Werich oder Jiří Voskovec. Dann kommt die Schauspielkunst, die Versuchung zum Realismus der Imitation dem Stück in die Quere. Auf der leeren Bühne sieht man statt Kulissen – richtig erraten – Projektionen.
Offen gestanden: so recht kann ich nicht verstehen, was die Errungenschaften von Dušan David Pařízek ausmacht. Wahrscheinlich liegen sie darin, dass er meisterhaft kapiert, wie man sich im Theaterbetrieb vernetzt. An die Regisseure, denen das tschechische Theater seinen Ruhm verdankt, an Jan Grossman, Otomar Krejča, Jan Kačer, Jiří Menzel oder Bolek Polívka reicht er nicht heran. In den Letzten Tagen der Menschheit beweist der gebürtige Brünner in erster Linie, dass er diverse Dialekte, Idiolekte und sprachliche Manierismen durch die Münder der Schauspieler*innen nachzuahmen in der Lage ist. Ein Schüler von Bohumil Hrabal nicht weniger als von Karl Kraus.
Kein Kritiker versäumt es, zu erwähnen, worin der Sondercharakter von Kraus’ „Marstheater“ innerhalb der dramatischen Produktion besteht: In seiner Überlänge. Bei Pařízek: Fehlanzeige. In der Fülle der Figuren und Charaktere. Bei Pařízek: Fehlanzeige. Im zyklischen Charakter von Szenen, die dem Montage-Prinzip ein Gegengewicht liefern. Bei Pařízek: Fehlanzeige. In der dramaturgischen Ausnahmestellung von Nörgler und Optimist in ihrer periodisch wiederkehrenden gegensätzlichen Außensicht. Bei Pařízek: Fehlanzeige. Kurz: die Salzburger Festspiele haben mit Pařízek die Chance verspielt, zu realisieren, was vom Repertoirebetrieb schwer zu stemmen ist, wie einst mit Luk Percevals Schlachten!. Zugleich liefert das Versäumnis einen Beleg, dass die Entlassung der Schauspielchefin Marina Davydova, die aus den Fotos des Direktoriums herausretuschiert wurde wie einst Trotzki aus den Fotos des Politbüros, jenseits von allen Ausreden mit einer gewissen Plausibilität aufwarten kann.
Aber das Problem Davydova ist kein Problem Davydova, sondern ein Problem Salzburger Festspiele. Was geschieht mit jenen, die Frau Davydova mit Getöse eingestellt haben? Was geschieht mit den Kommentatoren, die sie mit Vorschusslorbeeren überhäuft haben? Ziehen die jetzt endlich einmal Konsequenzen? Oder machen sie weiter wie Landesherren, die Willkür, sei es gegenüber Michael Maertens, sei es gegenüber Marina Davydova, walten lassen dürfen, ohne jemals Verantwortung übernehmen zu müssen? Sie wurden mit Karacho, aber ohne Folgen von ihrer eigenen Feigheit eingeholt. Die Salzburger Festspiele bestätigen ihren Ruf als antidemokratischer Apparat einer Clique. Nicht, weil Davydovas Programm in diesem Jahr so gut gewesen wäre – das war es nicht –, sondern weil man so mit Menschen (mit Männern wie mit Frauen) nicht umspringen darf, sollte man den Salzburger Festspielen Bescheid geben.
Und weil Pařízek das radikal zusammengestrichene Stück zu kurz geraten ist, hängt er rund eine halbe Stunde mit eigenen Fragen an das Publikum an. Aber er ist kein Hermann L. Gremliza und kein Franz Schuh und erst recht kein Karl Kraus. Seine Fleißaufgabe ist eine einzige Peinlichkeit, die den Nachweis erbringt, dass nicht nur andere ihn sondern vor allem er sich selbst kolossal überschätzt. Der Schrecken bleibt aus. Könnte es sein, dass das Medium Theater, mit oder ohne Mars, dem Stoff nicht mehr angemessen erscheint, dass eine Fernsehserie wie Babylon Berlin das besser kann?
Vor elf Jahren rief der Schauspieler Alexander Waechter vom Balkon: „Qualtinger, schau oba.“ Diesmal hätten sich alle Kraus-Verehrer nur mit Entsetzen abwenden können. Die mit Ausnahme von Elisa Plüss, die nicht weiß, wohin mit den Händen, in der Fehlbesetzung des Nörglers zu Recht gelobten Schauspieler*innen können nichts dafür. Sie hätten höchsten auf einen anderen Regisseur drängen sollen. Und wiederum: nicht das Regietheater ist das Problem, die mittelmäßigen Regisseure sind es.
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Die letzten Tage der Menschheit 2025: Elisa Plüss (Der Nörgler) und Branko Samarovski (Vinzenz Chramosta, Patriot) | © Tommy Hetzel / BURG
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Thomas Rothschild - 7. August 2025 ID 15401
Die letzten Tage der Menschheit (Perner-Insel Hallein, 06.08.2025)
von Karl Kraus
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek
Kostüme: Kamila Polívková und Magdaléna Vrábová
Musik und Videodesign; Peter Fasching
Licht: Reinhard Traub
Dramaturgie: Lena Wontorra
Besetzung:
Peter Fasching (Live-Musik, Peter Sedlatschek, Feldwebel)
Marie-Luise Stockinger (Alice Schalek, Kriegsberichterstatterin)
Michael Maertens (Sigmund Schwarz-Gelber, Politiker)
Dörte Lyssewski (Elfriede Ritter-Schwarz-Gelber, Schauspielerin)
Felix Rech (Anton Allmer, Feldkurat)
Elisa Plüss (Der Nörgler)
Branko Samarovski (Vinzenz Chramosta, Patriot)
Premiere war am 25. Juli 2025.
Eine Koproduktion der SALZBURGER FESTSPIELE mit dem Burgtheater Wien
Weitere Infos siehe auch: https://www.salzburgerfestspiele.at
Post an Dr. Thomas Rothschild
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