Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Neue Stücke

Jan Friedrich inszenierte Kim de l´Horizons preisgekrönten Blutbuch-Roman am Theater Magdeburg



Blutbuch am Theater Magdeburg | Foto (C) Kerstin Schomburg

Bewertung:    



Seit der 2022 erschienene Roman Blutbuch von Kim de l’Horizon mit dem Deutschen und Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, reißen die Bühnenadaptionen für Theater im deutschsprachigen Raum nicht ab. Auch am Theater Magdeburg hatte im Januar 2024 eine Bühnenfassung des Regisseurs Jan Friedrich Premiere. Seine Inszenierung gewann beim Festival Radikal jung 2024 am Münchner Volkstheater den Publikumspreis. Scheinbar hat sie aber nicht nur beim Publikum der Sachsen-Anhaltischen und Bayrischen Landeshauptstadt einen Nerv getroffen. Ende Januar wurde das Magdeburger Blutbuch auch von der THEATERTREFFEN-Jury für die 10er Auswahl der bemerkenswerten Inszenierungen des zurückliegenden Jahres ausgewählt und wird Anfang Mai in Berlin zu sehen sein. Eine weitere Einladung erhielt die Inszenierung zum Heidelberger Stückemarkt im April 2025.

Bemerkenswert ist schon der preisgekrönte Romantext über eine non-binäre Erzählfigur, die autofiktionale Züge trägt. Es ist die Geschichte einer Sprach- und Identitätsfindung, wie sie Kim de l’Horizon selbst durchgemacht hat. In fünf formal sehr unterschiedlichen Teilen erzählt der Roman von der dementen Großmutter (im Berner Dialekt „Großmeer“) und Mutter („Meer“) als sehr bildliche „Suche nach Schwemmgut“, von der „Suche nach der Kindheit“ oder der verschwundenen Schwester der Großmutter, über deren Schicksal in der Familie geschwiegen wurde. Eine Reflexion nicht nur über den eigenen Körper und die Identitätssuche Kims, sondern auch über die Geschichte der Frauen in der Familie. Eine schmerzhafte Traumabewältigung von über Jahrzehnte Unausgesprochenem.

Das ist in einer sehr bildhaften und teilweise expliziten Sprache geschrieben, in deren Mittelpunkt symbolisch die vom Urgroßvater gepflanzte Blutbuche im Garten der Familie steht. Das reizt geradezu zur ausmalenden Bebilderung. Auf der Bühne des Magdeburger Theaters steht bereits beim Einlass die Schauspielerin Iris Albrecht als Großmeer, die mit Einkaufstüten in den Händen ins Publikum starrt. Hinter ihr betreten nacheinander Anton Andreew, Julia Buchmann und Marcel Jacqueline Gisdol im queeren Outfit, das Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises in Frankfurt trug, und sprechen Texte aus dem Prolog über die Beziehung der Hauptfigur zur Großmutter.

Bleibt die Inszenierung in ihren Mitteln da noch sehr sparsam, greift sie dann aber auch zu von einer Livekamera in Großaufnahme auf einen Fadenvorhang (Bühne: Alexandre Corazzola) projizierten Videos (Nico Parisius). Teilweise ein Rausch der Bilder und Farben und auch die durch Oktay Önder in tiefrotem Kostüm (von Jan Friedrich) mit Fußverästelungen personifizierte Blutbuche schwebt vom Bühnenhimmel. Musikalisch untermalt wird das durch den Song Nightcall, der für Kim de l’Horizon eine besondere Bedeutung hat. „There's something inside you it's hard to explain“, ein Text, der fast programmatisch für dieses Buch ist. Nora Buzalka (in Vertretung für die erkrankte Carmen Steinert) spielt im geringelten Shirt auf Knien das Kind, das nicht Mann noch Frau werden will und ihre Finger wie auch die Blutbuche nach Lösungen anfleht. Monsterhaft erscheinen ihm die Großmutter, die hartes Brot mit den Zähnen knackt und in Ei und Milch brät, oder die gestresste Mutter (Julia Buchmann) als Eishexe im blauen Gewand mit Hörnern, die nur auf Schweizerdeutsch spricht.

Das sind vielleicht die eindrücklichsten Szenen, die von der Angst des Kinds, anders zu sein, berichten. Es will sich unsichtbar machen, hat kein Körpergefühl. Dazu kommen die Schilderungen der anderen, die von anonymen Sexerfahrungen der erwachsenen Kim mit schwulen Männern berichten. „… ich besorge ihnen einen Körper, an dem sie sich ihre Männlichkeit besorgen können.“ Harte Sexualpraktiken und schwuler Körperkult werden zum Kampf über die Hoheit am eigenen Körper. Auch das beeindruckt stark. Der Vater (Peer) spielt hier nur eine kleine Nebenrolle. Auch die Exkursionen zum „Nationalen Überdichter und mit Halbgottesflor bekränzten Germanenbürger Johann Wolfgang von zu und ab Goethe“ und dem Landschaftsarchitekten Heinrich Friedrich Wiepking (Michael Ruchter) mit unaufgearbeiteter Nazivergangenheit werden nur leicht humoristisch gestreift.

Die Inszenierung fixiert sich auf die zwei „Meeren“, deren Geschichte exemplarisch für viele Frauen der Geschichte stehen. Die Mutter, die das Schreiben eines Lebenslaufs der demenzkranken Großmutter an Kim abgibt, hat dafür einen langen Stammbaum von „Frauen, Meeren, Heroinnen“ bis zur Großmeer verfasst. Auch Kim scheitert letztlich am Lebenlauf der Großmutter, da die Mutter nicht über die damals 15jährig schwanger gewordene Schwester der Großmutter, deren Namen sie trägt, reden will. Es liegt nahe, dass sie vom Urgroßvater missbraucht wurde und in ein Frauengefängnis für unverheiratet Schwangere gekommen ist. Letztlich schreibt Kim ihrer Großmeer einen fiktiven Brief, in dem sie all diese unbeantworteten Fragen stellt. Dies steht am Ende dieser sehr sehenswerten Inszenierung, bei der alle zum Popsong Lose it von Austra tanzen und nacheinander an die Rampe treten und in Englisch den letzten Brief an die Großmutter sprechen.



Blutbuch am Theater Magdeburg | Foto (C) Kerstin Schomburg

Stefan Bock, 17. April 2025
ID 15230
BLUTBUCH (Theater Magdeburg, 17.04.2025)
nach dem Roman von Kim de l’Horizon

Regie und Kostüms: Jan Friedrich
Bühne: Alexandre Corazzola
Musik: Friedrich Byusa Blam
Video: Nico Parisius
Dramaturgie: Katrin Enders
Mit: Iris Albrecht, Anton Andreew, Julia Buchmann, Marcel Jacqueline Gisdol, Oktay Önder, Michael Ruchter und Nora Buzalka
Premiere war am 27. Januar 2024.
Weiterer Termine: 29.04./ 03., 04.05.2025 (beim Theatertreffen Berlin)

Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-magdeburg.de


Post an Stefan Bock

Freie Szene

Neue Stücke

Premieren (an Staats- und Stadttheatern)

THEATERTREFFEN



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:





THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

THEATERTREFFEN

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2025 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)