In den Grenzen
von 1871
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Der Reichskanzler von Atlantis vonn Björn SC Deigner - an der Württembergischen Landesbühne Esslingen | Foto (C) Björn Klein
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Bewertung:
Produktivität und öffentliche Wahrnehmung fallen nicht immer zusammen. Zu den fleißigsten und auch aktuellsten deutschen Dramatikern der vergangenen fünf Jahre gehört Björn SC Deigner. Aber so recht hat er die Aufmerksamkeit der einschlägigen Kritik noch nicht erobern können. Der Reichskanzler von Atlantis wurde 2019 in Bamberg uraufgeführt. Jetzt zeigt die Württembergische Landesbühne in Esslingen ihre Version des Stücks, dessen Brisanz eher zu- als abgenommen hat.
Seit Chaplins Der große Diktator und Lubitschs Sein oder Nichtsein wird, ähnlich wie über die Frage, ob die Darstellung von Gewalt in den Medien die reale Gewalt verstärke oder verringere, darüber gestritten, ob man dem Faschismus in seinen Ausprägungen mit Komik beikommen könne. Die einen behaupten, der Gegner würde, wenn nicht vernichtet, so doch beschädigt, wenn man ihn der Lächerlichkeit aussetze. Die anderen sind davon überzeugt, dass Komik sie verharmlose und ihnen somit in die Hände spiele. Gemeinsam haben sie beide, dass sie sich in der Regel nicht an Untersuchungen und Erfahrungen orientieren, sondern mit der unerschütterlichen Gewissheit eines Weltverstehers an einer einmal gefassten Meinung festhalten.
Deigners Parabel ist ein gutes Beispiel für ein Theaterstück, das einen Typus, eben den Reichsbürger, karikiert, ohne ihn zu verniedlichen. Es bedarf keiner Anstrengung, in seinem Atlantis das heutige Deutschland oder eine untergegangene Gegend in seinen Breiten zu erkennen wie in Chaplins Tomainia. Und nach den realen Möchtegern-Reichskanzlern braucht man nicht lange zu suchen. Sie mögen uns komisch erscheinen, aber sie sind nicht komischer, als Trump noch vor wenigen Monaten für die meisten vernünftigen Menschen war.
Fast jeder Satz, den eine der Figuren spricht, könnte, für sich genommen, in der deutschen Wirklichkeit unserer Tage gesprochen worden sein. Deigner stellt, nur minimal verzerrt, den Zusammenhang her. Wer sich auf das Stichwort „Verschwörungstheorie“ beschränkt, macht es sich zu leicht. Wären Verschwörungen nur ein Gehirngespinst, bedürfte es keiner Geheimdienste und keiner Spionageabwehr, keiner Warnungen vor Fake News und keiner Dechiffriermaschinen. Wer sich auf das simple Argument der Verschwörungstheorie einlässt, riskiert, dass es einfach umgekehrt wird: Nicht die behaupteten Gefährdungen seien ein Fantasieprodukt, sondern die von jenen, die sie in kritischer Absicht proklamieren, ausgehenden Gefahren oder gar nur deren Existenz. Spezifischer: Nicht die „schwachen Rassen der südlichen Länder“, die „die blonden, die blauäugigen Arier“ schwächten, seien eine Einbildung oder eine Unterstellung von Verschwörern, sondern die „Reichsbürger“ und die ihnen zugeschriebenen Ziele.
Es ist die konkrete Auffüllung, die solche Theorien absurd, gefährlich oder eben auch komisch macht. Deigner übernimmt für sein Exempel virulente Elemente wie den Antisemitismus und stellt sie in einen historischen Kontext. Manche Motive tauchen auf, die schon in Tankred Dorsts zu Unrecht vergessenem Toller eine Rolle spielten. Das war vor sechzig Jahren. Ihr Geist lebt weiter. Bei Deigner als Rudolf von Sebottendorf, ein weitgehend vergessener Rechtsradikaler „aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung“ in der Verkleidung eines riesigen Hasen, der mit einem verschwurbelten Monolog das Stück eröffnet.
Den „Reichskanzler“ Fürst Burkhard spielt Martin Theuer, an verschiedenen Stuttgarter Bühnen beheimatet und seit Jahren, mit einer längeren Unterbrechung, Ensemblemitglied der WLB. Er ist, wenn man über den Tellerrand der Staatstheater schaut, einer der bemerkenswertesten Schauspieler der Region, wandlungsfähig, mit einem komischen Talent, aber keine Rampensau. Physiognomisch erinnert er an eine Mischung aus Heinz Rühmann und, passend zur Rolle, Alexander Gauland.
Die Regie hat eine Neigung zu stummen Szenen in Zeitlupe. Das bekommt dem Stück nicht. Mehr Tempo entspräche seinen Boulevard-Elementen. Wenn der „Reichsinnenminister“ einen Schredder imitiert, ist das nur mäßig komisch.
Bleibt ein Rätsel, dessen Lösung der Rezensent nicht kennt. Warum lässt Deigner ausgerechnet den „Reichsinnenminister“ an den Artikel hundertsechsundvierzig des Grundgesetzes erinnern, als wäre er Günter Grass: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Will er die Linke, die auf solch einer Verfassung besteht, in die Nähe der Thule-Gesellschaft rücken, oder will er diese als heimliche Linke rehabilitieren? In einer Welt, in der eine Weidel behauptet, Hitler sei ein Kommunist gewesen, ist alles möglich.
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Der Reichskanzler von Atlantis vonn Björn SC Deigner - an der Württembergischen Landesbühne Esslingen | Foto (C) Björn Klein
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Thomas Rothschild - 15. Oktober 2025 ID 15515
DER REICHSKANZLER VON ATLANTIS (Podium 1, 14.10.2025)
von Björn SC Deigner
Regie: Christine Gnann
Bühne und Kostüme: Judith Philipp
Dramaturgie: Anna Gubiani
Besetzung:
Der Reichskanzler Fürst Burkhard ... Martin Theuer
Jutta, seine Frau ... Gesine Hannemann
Der Geist von Rudolf von Sebottendorf ... Kim Patrick Biele
Der Reichsinnenminister ... Markus Michalik
Frau Semmerling ... Franziska Theiner
UA am ETA-Hoffmann-Theater, Bamberg: 13. Oktober 2019
Premiere an der Württembergischen Landesbühne Esslingen: 26. September 2025
Weitere Esslinger Termine: 10., 21.11./ 15.12.2025// 27., 28.01./ 13.02./ 24., 26.03./ 02.05.2026
Weitere Infos siehe auch: https://wlb-esslingen.de
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