SCHOSTAKOWITSCH-FESTIVAL 2025
|
Orchesterkonzerte
|
|
Bewertung:
Der in Riga (in der damaligen Lettischen SSR, einer Teilrepublik der sich 1991 aufgelöst habenden Sowjetunion) geborene Andris Nelsons ist gerade mal 46 Jahre jung und hat bereits eine mehr als bemerkenswerte Weltkarriere als Dirigent hinter sich. In Westeuropa wurde man so richtig auf ihn aufmerksam, als er (erst Mitte 20) Wagners RING an der Lettischen Nationaloper zu stemmen begann; das war eine Koproduktion mit dem norwegischen Bergen International Festival, die in der Götterdämmerung 2009 gipfelte. Danach ging's in rasanten Schüben mit ihm aufwärts, es erfolgten erste Gastauftritte bei der BBC Philharmonic, dem RSO und der Deutsche Oper Berlin, der Wiener Staatsoper, den Wiener Symphonikern und Philharmonikern, der MET etc. pp. - ja und bis heute gibt es kaum ein Haus von Rang, wo er nicht irgendwann mal im Orchestergraben stand. Sein Bayreuther Debüt beim damaligen Lohengrin (Regie: Hans Neuenfels) bleibt nachhaltig in der Erinnerung.
Und dann kamen auch schon die beiden bisher für ihn prägendsten Chefpositionen sowohl beim Gewandhausorchester Leipzig (2015, als Nachfolger von Riccardo Chailly) sowie beim Boston Symphony Orchestra, das er Ende 2025 nach elf Jahren verlassen wird. An der Pleiße bleibt er noch etwas länger, weil er seinen Gewandhauskapellmeister-Vertrag bis 2027 verlängerte.
Nelsons "Sozialisation" kann man durchaus als postsowjetisch bezeichnen; und obwohl er erst 13 war, als es die UdSSR de facto nicht mehr gab, steht seine innere wie äußere Distanz zum kommunistischen Regime bis heute außer jeder Frage, und seine immer intensiver werdende Beschäftigung mit Leben und Werk Dmitri Schostakowitschs könnte auch im Nachhinein als gewollte und gezielte Aufarbeitung seiner eigenen sowjetisch-postsowjetischen Herkunft erkenn- oder erklärbar sein. Mit "seinem" amerikanischen Orchester aus Boston hat er bis heute sämtliche Schostakowitsch-Sinfonien sowie dessen Oper Lady Macbeth von Mzensk auf CD aufgenommen; ein Gewaltakt sondergleichen - und das dürfte dann durchaus ein mitzudenkener Grund gewesen sein, weswegen er nunmehr dieses im deutschsprachigen Raum bisher schier einmalig zu nennende SCHOSTAKOWITSCH-FESTIVAL in Leipzig initiierte:
Drei Orchester musizierten und musizieren in der Zeit vom 15. Mai bis 1. Juni 2025 alle fünfzehn Sinfonien dieses Komponisten: die Boston Symphonic, das Gewandhausorchester und ein aus jungen Musikerinnen und Musikern zusammengesetztes "Festivalorchester" (bestehend aus Mitgliedern der Mendelssohn-Orchesterakademie, des Tanglewood Music Center Orchestra und aus Studierenden der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig); hinzu kamen und kommen Schostakowitschs Lady Macbeth-Oper, seine Instrumentalkonzerte und ausgewählte Kammermusiken. Eine derartig umfassende Werkschau zu Schostakowitsch dürfte es m.E. weltweit noch nie gegeben haben.
|
Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig | Foto (C) Christian Modla; Bildquelle: gewandhausorchester.de
|
*
Ich besuchte zwei der letzten Orchesterkonzerte:
Bereits die jeweiligen Einführungen im dicht besetzten Mendelssohn-Saal ließen erkennen, dass es den Veranstaltern des Festivals nicht allein um's "Abmusizieren" der Schostakowitsch-Werke ging, sondern um eine weitstreuende also publikumsnahe Kommunizierung selbiger. Und sowohl Ann-Katrin Zimmermann als auch Niklas Schächner (deren Geleits zu den Konzerten am 28./ 29. Mai ich interessiert und wohlgelaunt verfolgte) ließen bei ihren jeweiligen Vorträgen erkennen, dass sie v.a. angetreten waren, um ihrer Zuhörerschaft die Kompliziert- und Widersprüchlichkeiten in Schostakowitschs Leben und Werk nicht noch verkomplizierender als es so schon war und ist, sondern mehr allgemeinverständlich nachvollziehbar zu machen; das taten sie mit einem urgesunden und nicht minder ironischen Distanzierungsgestus und (ganz selbstverständlich) hochprofundem Wissen; kurzum: Hat Freude gemacht ihnen hierbei gelauscht zu haben.
Michael Schönheit (Orgel) und Baiba Skride (Violine) waren die Instrumentalsolisten des ersten Konzertteils am Abend des 28. Mai [Programmdetails s.u.]. Günther Groissböck seinerseits wartete dann mit seinem mehr als strapaziös zu nennenden Stimm- und Krafteinsatz in Schostakowitschs Babi Jar-Sinfonie auf; die Herren des MDR-Rundfunkchors, des Chors der Oper Leipzig und des GewandhausChores erledigten den Wechselgesang (mit Groissböck). Die klanglichen Überwältigungen dieser Sinfonie sind enorm, der eigentliche "Babi Jar"-Teil umfasst dann lediglich den ersten der insgesamt fünf Sinfonie-Sätze - danach ebbt das Werk in seiner auch vom Lyriker Jewtuschenko zu Papier gebrachten gedanklichen Wucht und Bedeutung nach und nach ab, der (für Schostakowitsch und die innere Aufarbeitung seiner von ihm selbst als gelegentliche Denunziation oder sogar Verrat empfundenen Wundmale seines eigenen Lebens; oftmals ging es da um die Frage nach Leben und Tod für ihn selber, also dieses Entweder-Oder im Autobiografischen) so wichtige letzte Sinfoniesatz - mit "Eine Karriere" übertitelt - sollte gleichsam auch als musikalisch schwächster und im Ganzen belanglosester dieses Sinfonie-Monstrums erleb- und deutbar sein. Das Gewandhausorchester brillierte unter Nelsons Leitung.
Die Konzertmatinee am darauffolgenden Tag wartete mit den live fast nie dargebotenen drei ersten Schostakowitsch-Sinfonien auf. Die erste ist de facto die Examensarbeit des damals erst 19-jährigen Musikstudenten, und ihre Uraufführung in der Leningrader Philharmonie anno 1926 wurde für den angehenden Tonschöpfer ein spektakulärer Erfolg - Anna Rakitina dirigierte sie, und das Festivalorchester [personelle Zusammensetzung s.o. im Text] wuppte seine kompositorisch perfekt zusammengeschmiedeten vier Sätze mit jugendlichem Verve und instrumentaler Perfektion; nicht enden wollender Beifall. / Vor der Pause gab es - unter Nelsons Leitung - die zwei allein wegen ihres propagandistischen Inhalts hochsuspekten chorsinfonischen Sinfonie-Machwerke unter den zwei Titeln "An den Oktober" und "Zum 1. Mai"; der MDR-Rundfunkchor (Einstudierung: Pavel Brochin) leistete sich den mit Partei- und Diktatorenhuldigungen grob und peinlichst durchgeschwängerten Gesang - wann kriegte man je die Gelegenheit, die Zweite und die Dritte Schostakowitschs quasi "von Mensch zu Mensch" im ersten Drittel des 21. Jahrhundert angeboten bekommen zu haben; jedenfalls gestaltete sich diese vollumfänglich-vollständige Darreichung von Opus 14 und Opus 20, und insbesondere durch die jungen Musikerinnen und Musiker dies- und jenseits des Großen Teichs, zu einem der wohl sensationellsten Highlights dieses Festivals.
Beide Male ausufernder Applaus!!
|
Andre Sokolowski – 30. Mai 2025 ID 15285
SCHOSTAKOWITSCH-FESTIVAL 2025 (Gewandhaus zu Leipzig)
Orchester IX (28.05.2025)
Dmitri Schostakowitsch: Passacaglia aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk op. 29 (Bearbeitung für Orgel)
- 2. Konzert für Violine und Orchester cis-Moll op. 129
- 13. Sinfonie b-Moll op. 113 (Babi Jar)
Michael Schönheit, Orgel
Baiba Skride, Violine
Günther Groissböck, Bass
Herren des MDR-Rundfunkchores
Herren des Chores der Oper Leipzig
Herren des Gewandhauschores
Gewandhausorchester Leipzig
Dirigent: Andris Nelsons
Orchester X (29.05.2025)
Schostakowitsch: 2. Sinfonie H-Dur op. 14 (An den Oktober)
- 3. Sinfonie Es-Dur op. 20 (Zum 1. Mai)
- 1. Sinfonie f-Moll op. 10
MDR-Rundfunkchor
Festivalorchester
Dirigenten: Andris Nelsons und Anna Rakitina
Weitere Infos siehe auch: https://www.gewandhausorchester.de
https://www.andre-sokolowski.de
Konzerte
Musiktheater
Neue Musik
Rosinenpicken
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
BAYREUTHER FESTSPIELE
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|