Über eins der grauenhaftesten Massaker aus dem Zweiten Weltkrieg ist vielleicht nicht mal der Name allgemein bekannt. Ich weiß auch nicht, ob er in Schulen als Geschichtsstoff taugt. Zu uneindeutig oder gar verfänglich dürften sich die Themen, die ihn "auslösen", im Nachhinein wohl lesen: Babi Jar. Das heißt zu deutsch auch: Weiberschlucht. Liegt in der Ukraine, nah der Hauptstadt Kiew.
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"Am 22. September 1941 habe ich selbst gesehen, wie nach Babi Jar im Laufe des Tages etwa 40 Lastkraftwagen fuhren, vollbeladen mit Einwohnern jüdischer Nationalität: Männern, Frauen und Kindern, wobei einige Frauen Säuglinge in den Armen hielten.
Ich und noch einige Frauen, die in der Nähe von Babi Jar wohnen, begaben uns, von den deutschen Wachen unbemerkt, zu der Stelle, an der die Autos haltmachten und die Menschen abgeladen wurden. Wir sahen, daß die Deutschen etwa 15 Meter vom Anfang des Babi Jar die Juden sich zu entkleiden zwangen und ihnen befahlen, den Babi Jar entlang zu laufen. Dabei schossen die Deutschen mit Maschinenpistolen und Maschinengewehren auf die Laufenden.
Ich habe selbst gesehen, wie die Deutschen Säuglinge in die Schlucht hinabwarfen. In der Schlucht befanden sich nicht nur Erschossene, sondern auch Verletzte und sogar lebende Kinder. Dennoch schütteten die Deutschen die Schlucht zu; dabei war zu bemerken, daß sich die dünne Schicht Erde über den Menschenleibern bewegte.
Viele Menschen fielen in der Vorahnung ihres Todes in Ohnmacht, zerrten an ihren Kleidern, rauften sich die Haare und stürzten den deutschen Soldaten zu Füßen; als Antwort erhielten sie Stockschläge. - Die Judenerschießungen dauerten mehrere Tage..."
(Zitierte nach einer Zeugin in: Erhard Roy Wiehn, Babi Jar 1941, ISBN 389649645X)
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Babi Jar 1941 | Bildquelle: Wikipedia
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Gemeint ist die Massenexekution von über 30.000 Juden, 29. und 30. September 1941, durch Angehörige eines Sonderkommandos (nicht nur) der SS; auch einheimische Kollaborateure waren mit am Werk. Der permanente Antisemitismus, praktiziert und ausgelebt im KPdSU-Regime der Ära Stalins, war wohl ein gefund'nes Fressen für die außerkomminternen "Richtigsteller" der Sowjetgeschichte; es ist auch nicht unvermessen, ausgerechnet hier und heute ruhig von einem uneindämmbaren und weiter anschwellenden "aktuellen" Antisemitismus in den aufmüpfigen Republiken und Rayonen der Ex-UdSSR zu sprechen. Allgemeinstes Zeichen des politischen Verfalls und Vorbote zu einem sündbockhetzerischen Völkerhass der primitivsten Art.
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Mord, Totschlag zählten dann auch zu den Themen, denen sich zur damaligen Zeit der ersten "Aufarbeitung" dieser Problematiken Jewgeni Jewtuschenko, der geniale russische Gedichteschreiber, widmen tat. Ihn und Dmitri Schostakowitsch trennten, als sie sich zum ersten Mal begegneten, Jahrzehnte ihres Lebens. Schostakowitsch fand als Textgrundlage seiner vorvorletzten Sinfonie ein in 'ner Zeitung abgedrucktes hochbrisant-politisches Gedicht von Jewtuschenko, Babi Jar, in dem der Dichter seine ganze Scham als Russe und als Staatsbürger der UdSSR zum Ausdruck bringen wollte... eine Stellvertreterscham für den tatsächlich praktizierten Antisemitismus im gepriesenen Vielvölkerstaat; das war zur damaligen Zeit, trotz kurzer Tau-Periode in der Ära Chrustschow, Sprengstoff allererster Güte - und es grenzte an ein Wunder, dass den beiden (Jewtuschenko/Schostakowitsch) die Veröffentlichung und die Aufführung der Babi Jar-Vertonung in der Tat gelang!
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* Im anhaltenden Schostakowitsch-Jahr gelang dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter seinem Chef Marek Janowski eine faszinierende, ja magische und ebendrum so unvergesslich nachwirkende Interpretation derselben Sinfonie. Zuletzt war sie, und ausgerechnet auf dem Territorium der ExDDR, unter den Dirigenten Thomas Sanderling (1973) und Rolf Reuter (1988) zu erleben. Das ist lange her. Und hat auch mit der insgesamten Kompliziert- und Rezeptionsunfreundlichkeit des Werks zu tun. Es ist ein schwieriges und ein besonders heikles Ding mit diesem Schostakowitsch-Opus. Denn: Nur ausschließlich der erste Satz behandelt "Babi Jar". Dann springen die Autoren (Schostakowitsch mehr als Jewtuschenko) mittels ihrer Auswahl allzu schnell und überaus abrupt zu Themen wie "Humor", "Im Laden", "Ängste" und "Karriere" - alles weitere Gedichte Jewtuschenko's, die das Leben und die ganze Seele Russlands beispielhaft behandeln, schmücken oder persiflieren - über. Das erleichtert freilich nicht ein intensives Eingelassenhaben auf den Babi Jar, dem ungeheueren Zentraltext dieser Schostakowitsch-Sinfonie.
Arutjun Kotchinian, der sehr kurzfristig für den erkrankten Sergej Aleksaschkin, einem weltreisenden Dauerinterpreten dieser Dreizehnten von Schostakowitsch, eingesprungen war, schlug sich in seiner ungewohnten Aufgabe mit dieser dominanten Basspartie sehr glaubwürdig.
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Andre Sokolowski - 23. Oktober 2006 ID 2750
http://www.andre-sokolowski.de
RUNDFUNK-SINFONIEORCHESTER BERLIN (Berliner Philharmonie, 22.10.2006)
György Ligeti: Konzert für Violine und Orchester
Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 13 b-moll op. 113, Babi Jar
Isabelle Faust, Violine
Arutjun Kotchinian, Bass
Herren des Rundfunkchores Berlin
(Choreinstudierung Simon Halsey)
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Dirigent Marek Janowski
Weitere Infos siehe auch: http://www.rsb-online.de
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