Bruderliebe
unter
"Wikingern"
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Bewertung:
Als Anker (Nikolaj Lie Kaas) nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, findet er seinen Bruder Manfred (Mads Mikkelsen, King's Land, 2024) ) in einem kritischen Zustand vor. Hatte dieser sich als Kind für einen Wikinger gehalten und war mit einem Wikingerhelm herumgelaufen, hält er sich nun für John Lennon. Er leidet an einer ausgeprägten dissoziativen Identitätsstörung, und wenn sein Umfeld nicht entsprechend reagiert, springt er schon mal aus dem Fenster – egal aus welchem Stockwerk – oder aus einem fahrenden Auto. Drehbuch und Regie von Therapie für Wikinger stammen von Anders Thomas Jensen, und der lässt Manfred die Todessprünge unbeschadet überstehen. Da dieser derjenige ist, der das Geld von Ankers damaligem Raubüberfall vergraben hat, steht Anker nun vor einem Problem: Er muss seinen Bruder so stabilisieren, dass dieser sich wieder daran erinnert, wo genau im Wald er das Geld deponiert hat. Dumm nur, dass sie dazu vorübergehend in ihrem Elternhaus leben müssen, in dem sich in ihrer Kindheit Dinge zugetragen haben, an die sich beide nicht erinnern wollen. So wird die Geldsuche zu einem andersartigen Psychotrip, den Jensen in seiner ihm eigenen Art als schwarze Komödie inszeniert und der seine Protagonisten in einer Art Versuchsanordnung vor nahezu unlösbare Aufgaben stellt und dabei wieder einmal seinen ganz eigenen absurden Mikrokosmos erschafft.
Da es bei Jensen meist brutal und blutig zugeht, passt die Analogie zu den Wikingern, die zu ihrer Zeit gefürchtet waren und erbarmungslos brandschatzten und mordeten, so zumindest ihr Ruf. Jensen arbeitet gerne mit den selben Schauspielern zusammen (Helden der Wahrscheinlichkeit, 2020), und so ist auch Nicolas Bro wieder dabei, der als Mittäter hinter dem Geld her ist, obwohl er seinerzeit seinen Anteil ausgezahlt bekam. Das ist ihm aber egal, weil er Schulden hat, und er ist ein zusätzliches Hindernis bei der „Therapie“ von Manfred, den man jetzt als John Lennon gewähren lässt. Denn der selbst ernannte Therapeut Lothar (Lars Brygmann) hat sogar zwei Patienten mit einem ähnlichen Krankheitsbild besorgt, von denen ein Stummer sich für Ringo Starr hält, und ein weiterer Identitäten als Paul McCartney, George Harrison und einigen anderen angenommen hat. Die Männer sind nun in dem im Wald gelegenen Elternhaus der Brüder versammelt und sollen als therapeutische Maßnahme als Beatles eine Band gründen. Da Hamdan, der begabteste "Musiker" (Kardo Razzazi), sich gelegentlich auch für Björn Ulvaeus hält, kommen anfangs aber nur ABBA-Titel dabei heraus.
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Jensen hat eine Komödie über psychisch Kranke inszeniert, was eine ziemliche Gratwanderung ist. Da er sich aber nicht über die Menschen selbst, sondern über die abstrusen Situationen, in die sie und ihr Umfeld geraten, lustig macht, kann man ihm eine Diskriminierung kaum unterstellen. Die Patienten behalten weitgehend ihre Würde und nehmen sich selber in ihren angenommenen Identitäten sehr ernst. In diesem Gegensatz funktioniert die Komödie vorzüglich. Wenn Hamdan Lothar fragt, ob auch er denke, dass Hamdan blond und blauäugig ist, weil er sich gerade für einen deutschen "Arier" hält, dann ist aber auch die Verzweiflung echt, als der anerkannt zu werden, als der er sich gerade fühlt, (Kardo Razzazi ist ein Schwede kurdischer Abstammung und trägt wie ein Taliban einen Rauschebart). Und Mads Mikkelsen, der vor seiner Schauspielausbildung Profi-Tänzer war, zeigt allein schon durch seine Körperhaltung und Bewegungen, wie belastet Manfred ist und wie anrührend in seiner Kreatürlichkeit. Jensen ist zudem für Überraschungen und unvorhersehbare Wendungen bekannt, sodass seine Drehbücher und Figuren oft unberechenbar sind.
Auch in Therapie für Wikinger geht es um Außenseiter und das, was normal ist oder zumindest sein soll. Als normal gilt das Paar Margrethe (Sofie Gråbøl) und Werner (Søren Malling), das ebenfalls in dem Haus wohnt. Doch je mehr man über sie erfährt, umso mehr muss man den Begriff Normalität hinterfragen. Jedoch sind sie ein wichtiger Gegenpol und Spiegel zu den psychisch Kranken mit deren Defiziten, aber auch zu deren Resilienz. Insbesondere Manfred schafft es immer wieder, sich seinem Bruder und dessen verzweifelter Geldsuche zu entziehen. Und an das gemeinsam erlebte Kindheitstrauma wollen beide nicht rühren.
Der Film wird von einer Zeichentrickgeschichte umrahmt, die damit beginnt, dass zu Wikingerzeiten der Sohn des Häuptlings seinen linken Arm verlor und deswegen anders war als die anderen. Aus diesem Grunde verfügte der Häuptling, dass sich alle den linken Arm abhacken müssen, damit der Sohn nicht mehr anders ist. Im Zeichentrickteil am Ende verliert jemand den Fuß, und so müssen sich alle den Fuß abhacken lassen, und das geht weiter bis zur fröhlichen Selbstauslöschung. Soweit geht Jensen in der Geschichte um Manfred und Anker nicht, aber die Idee, die wenigen Identitätsgestörten als Maßstab für alle zu nehmen und eine Welt zu basteln, die mit deren Wahnvorstellungen übereinstimmt, spricht schon Bände.
Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten, nur so viel, dass am Ende u.a. die Bruderliebe siegt.
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John Lennon alias Manfred (Mads Mikkelsen) soll seinem Bruder Anker (Nikolaj Lie Kaas) sagen, wo er das Geld vergraben hat | © Neue Visionen Filmverleih / Splendid Film
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Helga Fitzner - 19. Dezember 2025 ID 15616
https://www.neuevisionen.de/
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