Eine Hommage
an das
Anderssein
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Bewertung:
"Die Protagonisten in all meinen Filmen sind Außenseiter, und meine Themen und Erzählungen beschäftigen sich mit Abweichungen. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen, in denen Humor und Tragik mitschwingt; Reflexionen unseres eigenen Alltags, die die Momente der Freude ebenso feiern wie die Düsternis, die mit den Hürden des Lebens einhergeht. Seit über dreißig Jahren ist mein Ziel ganz einfach: mein Publikum zum Lachen zu bringen - und zum Weinen." (Adam Elliot)
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Gleich zu Anfang sei darauf hingewiesen, dass Memoiren einer Schnecke erst ab 16 Jahren freigegeben ist, obwohl die Tatsache, dass es ein Stop-Motion-Film mit Knetgummi-Figuren und ganzen Sets aus Knetgummi ist, auf einen Kinderfilm schließen lassen könnte. Doch der australische Regisseur Adam Elliot ist bekannt für seine expliziten und teilweise schonungslosen Tragikomödien, wie bei seinem letzten Langspielfilm Mary & Max.
Das Leben meint es nicht wirklich gut mit der Hauptfigur Grace und ihrem Zwillingsbruder Gilbert. Ihre Mutter stirbt bei deren Geburt, und Grace hat eine Lippenspalte, die operiert werden musste und für die sie von anderen Kindern oft gehänselt wird. Doch solange ihr Bruder da ist und sie verteidigt, ist alles noch in Ordnung. Der Vater ist nach einem Unfall auf den Rollstuhl angewiesen und trinkt, aber die kleine Familie hält zusammen und gewinnt dem Leben auch schöne Momente ab. Einige davon sind ganz schon drastisch, wenn der gelähmte Vater begeistert in einem Vergnügungspark auf einer Achterbahn mitfährt und sich dabei richtig lebendig fühlt. Dann kommen die nächsten Schicksalsschläge. Als der Vater einen plötzlichen Tod erleidet, werden die Zwillinge getrennt und in weit entfernt lebenden Familien untergebracht. Hilfe, um die Trauer um den Verlust der Eltern und des Geschwisterkindes zu bewältigen, bekommen die beiden nicht.
Graces Familie ist ganz nett, ignoriert aber den Umstand, dass es Gründe für ihre Traumata gibt. Sie wollen ein fröhliches Kind haben. Sie sind dem Leben und Vergnügen sehr zugewandt und besuchen regelmäßig einen Swingerclub. Gilbert dagegen ist in einer harschen Sekte gelandet, und die Eltern beuten mehrere Kinder aus, um ihre Apfelplantage zu bewirtschaften. Regisseur Elliot, der auch das Drehbuch schrieb und die Figuren und Sets selber gebaut hat, kann die Grausamkeiten und Scheinheiligkeit der Sekte in ihrer Brutalität zeigen, weil er auf keine Kinderdarsteller Rücksicht nehmen muss. Auch wenn es nur Knetgummi ist, bringt er seinen Schöpfungen aber viel Liebe und Würdigung entgegen, denn gerade durch die ungeminderte Härte kehrt er ihr Leiden nicht unter Tisch, sondern arbeitet es sehr genau heraus – wie auch ihre gelegentlichen Triumphe.
Grace freundet sich mit einer exzentrischen, Zigarre rauchenden alten Frau namens Pinkie an, die im Gegensatz zu ihr das Leben in vollen Zügen ausgeschöpft hat und dies auch immer noch tut. Dazu gehören auch Sexualität und Nacktheit. Grace dagegen hat sich in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Sie sammelt alles, was sie an Schneckenfiguren finden kann und auch echte Schnecken. Einer davon, Silvie, erzählt sie ihre Lebensgeschichte. Sie hat die Trennung von Gilbert nie verwunden, und deshalb kann es ihr auch nicht gut gehen, so sehr sich die Pflegeeltern das wünschen. Elliott, der in Mary & Max sehr ausführlich das Asperger-Syndrom von Max illustriert hat, schildert hier sehr genau Graces unbehandelte psychische Störung, die eine Mütze mit Schneckenfühlern trägt und kaum soziale Kontakte pflegt. Neben dem Rückzug von den Menschen und vom Leben verfällt sie auch immer mehr der Sammelwut, sodass ihr Zimmer voll von Schneckenfiguren ist. Doch eines Tages, als die mittlerweile erwachsene Grace wegen ihrer Einsamkeit verzweifelt, tritt die große Liebe in ihr Leben. Schon nach kurzer Zeit wollen die beiden heiraten und schicken Gilbert Geld, damit er zu ihnen ziehen kann. Das Leben ist auf einmal sehr rosig geworden, doch...
Adam Elliot hat acht Jahre gebraucht, um diesen Film herzustellen. Er muss pro Sekunde Film die Figuren 10 bis 15 mal verändern und abfilmen. Das hat er mit sehr viel Hingabe und Sorgfalt und mit Hilfe des Kameramanns Gerald Thompson gemacht. Er hat auf die Unterstützung durch Computertechnik bewusst verzichtet und den Figuren auch optisch „Ecken und Kanten“ gegeben, die sie im übertragenen Sinne auch als Persönlichkeiten haben. Wie grausam die Ausgrenzung derer ist, die auch nur etwas von der Masse abweichen, sieht man an Grace. Deren Narbe an der Lippe ist fast nicht erkennbar und doch eine Art Behinderung. Den alten Menschen hat Elliot bewusst arge Falten angelegt, denn auch das Alter zeigt er ungeschönt. Elliot schaut sehr genau hin und ist darin sehr realitätsnah. Er nimmt die Verletzungen sehr ernst, die oft gerne heruntergespielt oder ausgeklammert werden. Wegen der Abstraktion durch den Knetgummi kann man aber gut empathisch Anteil nehmen.
Für die Zuschauer werden diese Abweichungen zunehmend unbedeutend, weil Elliot die Güte und Charakterstärke seiner Figuren leuchten lässt. Jeder von uns hat Traumatisierungen erfahren, jeder hat sich mal, zumindest zwischenzeitlich, zurückgezogen, und jeder hat irgendwann mal irgendetwas gesammelt. Wie schmerzlich Hänseleien im Kindesalter sind, wissen die meisten, und auch Trennungen haben alle mal durchgemacht. Diese Verwundungen und die Verletzlichkeit schildert Elliot intensiv, aber auch die Belastbarkeit und Kraft im Umgang damit. Am Ende fiebert man mit Grace, ob es in ihrem Leben doch noch zu einem Aufschwung kommt. Da ist sie längst keine Knetgummi-Figur mehr, sondern eine Art lieb gewonnene Schwester, die unter schwierigen Bedingungen gelernt hat, über sich hinaus zu wachsen.
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Die Zwillinge Grace und Gilbert sowie ihr behinderter Vater machen das Beste aus ihrem Leben und besuchen einen Vergnügungspark | © Capelight Pictures
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Helga Fitzner - 22. Juli 2025 ID 15374
https://www.capelight.de/memoiren-einer-schnecke
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