Familien-
geheimnisse,
Folge 486
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Leuchtfeuer von Nancy Harris am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein
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Bewertung:
Dass Burkhard C. Kosminski eine ausgeprägte Schwäche für den anglo-amerikanischen Alltagsrealismus hat, wusste man aus seiner Mannheimer Intendanz. Man darf also davon ausgehen, dass jene Volksvertreter und ihre Berater, die ihn nach Stuttgart geholt haben, so sie sich auch nur, wenn nicht aus eigener Anschauung, wenigstens aus zweiter Hand informiert haben, diese Art von Theater in die baden-württembergische Hauptstadt importieren wollten. Man muss sich allerdings wundern, dass die selben Personen, die zuvor Armin Petras berufen hatten, auf einmal dieser diametral entgegengesetzten Ästhetik den Zuschlag gaben. Aber warum sollten sie in Sachen Kultur konsequenter sein als in der allgemeinen Politik?
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Colm (David Müller) kehrt mit seiner eben angetrauten amerikanischen Frau Bonnie (Anne-Marie Lux) aus den USA in seine irische Heimat zurück, zu seiner Mutter (Christiane Roßbach), die Künstlerin ist und abstrakte Blutorangen malt. Hinzu kommen Colms Freund Donal (Elias Krischke), mit dem ihn in seiner Jugend eine Liebschaft verband, und in einer ziemlich vernachlässigten Rolle Ray (Peer Oscar Musinowski). Sie führen wohlgefügte Dialoge von Nancy Harris, die Jessica Higgins in ein kolloquiales Deutsch gebracht hat, wenn man von ein paar Fixierungen auf das Original absieht. So spricht Colm von seinem Haus, wo er sein Zuhause meint, und Bonnie mag kein „Getreide“, wo offenbar „cereals“ gemeint sind, wenn Mama Beiv Bananen nicht dazu zählt.
Leuchtfeuer folgt den Regeln des analytischen Dramas. Ein Geheimnis liegt in der Vergangenheit und wird nach und nach aufgedeckt. Aber dieses Geheimnis wirkt, im Vergleich zu den Vorbildern bei Ibsen und den Begabteren unter seinen Epigonen, kleinkariert, nur mäßig aufregend.
Offenbar war der Regisseurin Sophia Bodamer bei so viel „echtem Leben“ nicht ganz wohl. Sie hat sich für eine gemäßigte Stilisierung entschieden. Bei Bonnie allerdings bedient sie alle Klischees von der exaltierten Amerikanerin, und die nervt mit ihren Übertreibungen, statt das Nervige auszustellen. Jede Geste gerät zu heftig, jeder Aufschrei zu schrill.
Die Szenen enden jeweils mit einem Blackout. Die Darsteller verlassen das Podium im Arbeitslicht. Die pausierenden Schauspieler verharren außerhalb des in einem Wasserbecken verankerten Gerüsts (Bühne: Oliver Helf), das den Raum des Kammertheaters füllt.
Gerne schaut und hört man Christiane Roßbach zu. Sie bestätigt sich als eins der interessantesten und wandlungsfähigsten Mitglieder des Stuttgarter Ensembles, sie verzichtet, anders als Anne-Marie Lux, auf jede Übertreibung und lässt die Grenzen zwischen psychologischer Genauigkeit und Komik verschwimmen.
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Es lässt sich nachempfinden, dass Kosminski der Versuchung einer deutschsprachigen Erstaufführung nicht widerstehen konnte. Eine Entdeckung ist Nancy Harris nicht. Und man mag sich fragen, warum solche Giganten der irischen Dramatik wie John Millington Synge, Seán O’Casey oder Brendan Behan weitgehend von den deutschen Bühnen verschwunden sind. Sie sind ein Jahrhundert älter als Harris, aber um Klassen besser und – genau besehen – nicht weniger aktuell oder gar weniger modern.
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Leuchtfeuer von Nancy Harris am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein
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Thomas Rothschild - 24. Juli 2021 (2) ID 13046
LEUCHTFEUER (Kammertheater, 24.07.2021)
Inszenierung: Sophia Bodamer
Bühne, Kostüm und Video: Oliver Helf
Licht Design: Jack Knowles und Stefan Maria Schmidt
Sound Design: George Dennis
Dramaturgie: Christina Schlögl
Mit: Christiane Roßbach, David Müller, Anne-Marie Lux, Elias Krischke und Peer Oscar Musinowski
Premiere der DEA am Schauspiel Stuttgart: 10. Juli 2021
Weiterer Termin: 25.07.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de/
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