Tarockierende
Sozialdemokraten
|
Italienische Nacht am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) David Baltzer
|
Bewertung:
Im Publikum wurden prominente Sozialdemokraten gesichtet. Ob sie sich in dem Spiegel, den ihnen die Bühne vorgehalten hat, wiedererkannt haben? Italienische Nacht ist das Theaterstück der Stunde in einer Zeit, in der die Sozialdemokratie europaweit die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt und die Rechtsextremen zugleich in beängstigendem Maße erstarken. Ödön von Horváths „Volksstück“ zeichnet ein nur wenig satirisch verzerrtes Bild von der Epoche Als die Nacht sich senkte – so der Titel eines eben im Ueberreuter Verlag erschienenen Buchs des österreichischen Journalisten Herbert Lackner –, und es scheint nicht abwegig, wenn man befürchtet, dass genau dies sich in unserer Gegenwart wiederholen könnte: dass die Nacht sich senkt.
Horváth zeigt uns einen spießigen Ortsverein – in seinem Stück heißen die Sozis „Republikanischer Schutzverband“ – mit radikalem Nachwuchs, der aber kein Gehör findet, während sich die Faschisten zum Angriff bereit machen. „Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt – und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen!“ So tönt am Ende der autoritäre republikanische Stadtrat, dargestellt von einem überwältigenden Elmar Roloff, und der eben aus der Partei ausgeschlossene Martin ergänzt: „Gute Nacht!“ Noch ist der Ortsverein nach dem Debakel des Fests namens Italienische Nacht mit einem blauen Auge davon gekommen, aber wenn die bedrückte Anna in der Stuttgarter Inszenierung von Calixto Bieito allein auf der Bühne zurück bleibt und ein Pfeiler der Kulisse einstürzt, wissen wir, was nachfolgen wird. Schon zuvor haben die Sozialdemokraten außer dem gedemütigten Stadtrat, seiner in der Not zum zornigen Widerspruch ermutigten Frau und dem abwesenden Martin, eifrig eingestimmt in den nationalistischen Gesang der Wacht am Rhein. Die Zahl der Opportunisten, die nach 1933 zur NSDAP übergelaufen sind, rechtfertigt diese Zutat zu dem zwei Jahre davor uraufgeführten Stück.
Bieito stellt Momente des Stillstands, die wie Geisterarrangements wirken, langsamen Bewegungen gegenüber, das Reden dem Schweigen, die Vordergrundhandlung dem statischen Hintergrund. Die Kulisse liefert eine weit nach hinten reichende spartanisch angedeutete Wirtsstube, die Begleitmusik eine kleine Blaskapelle.
Das eigentliche Wunder dieser Aufführung ist, wie nach nur einer Spielzeit die von Armin Petras übernommenen Schauspieler mit den von Burkhard C. Kosminski mitgebrachten Neuen zu einem homogenen Ensemble zusammengeschweißt wurden. Das ist nicht selbstverständlich. Claus Peymann ist es bei seiner Übernahme des Burgtheaters einst nicht gelungen. So ist denn ein Abend zustande gekommen, bei dem sich die leidige Alternative von Regie- und Schauspielertheater erübrigt. Soll man die Aktualität loben? Wir könnten darauf verzichten.
|
Italienische Nacht am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) David Baltzer
|
Thomas Rothschild – 1. Oktober 2019 ID 11711
ITALIENISCHE NACHT (Schauspielhaus, 29.09.2019)
Inszenierung: Calixto Bieito
Bühne: Calixto Bieito und Helen Stichlmeir
Kostüme: Sophia Schneider
Musik: Barbora Horáková
Korrepetition: Sebastian Neugebauer und Aleš Vitek
Licht: Sebastian Isbert
Dramaturgie: Ingoh Brux und Bastian Boẞ
Mit: Elmar Roloff, Felix Strobel, Boris Burgstaller, Michael Stiller, Klaus Rodewald, Peer Oscar Musinowski, David Müller, Gábor Biedermann, Matthias Leja, Christiane Roßbach, Paula Skorupa, Nina Siewert und Statisterie sowie den Live-MusikerInnen Gábor Szabó/Laura Breuter/Valdis Bizuns (Trompete 1 und 2), Hubert Hegele/
Tabea Hesselschwerdt (Posaune), Taro Ushiyama (Tuba), Mathias Stelzer/Friedrich zu Dohna (Waldhorn) und Florian Peter/Tom Goemare/Florian Hock (Schlagzeug)
Premiere am Schauspiel Stuttgart: 21. September 2019
Weitere Termine: 02., 03., 21.10. / 10., 13., 17.12.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
Premierenkritiken
ROTHSCHILDS KOLUMNEN
Theater-Themen
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
TANZ IM AUGUST
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|