Some things
last a lifetime
ALL DAS SCHÖNE am Staatsschauspiel Dresden
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Bewertung:
Nur knapp bin ich der Nötigung entgangen, den Vater zu spielen. Hätte ich nachgegeben, könnte ich nicht von diesem Theaterabend berichten. Es verstößt ja wohl gegen die guten Sitten, ein Ereignis zu rezensieren, an dem man selbst beteiligt war.
All das Schöne ist der deutsche Titel des Dramas, das im englischen Original Every Brilliant Thing heißt. Der 1980 geborene Duncan Macmillan, der sich unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit der Regisseurin Katie Mitchell einen Namen gemacht hat, schrieb das 2013 uraufgeführte Einpersonenstück mit dem drei Jahre jüngeren Jonny Donahoe, der seine Erfahrungen als Stand-up-Comedian einbrachte, übersetzt hat es, wie auch die anderen Stücke des Autors, Corinna Brocher.
Zum Mitmachtheater wird All das Schöne, das, merklich, aus einer Kurzgeschichte namens Sleeve Notes hervorgegangen ist, dadurch, dass die Zuschauer durchnummerierte Zettel, die beim Eintritt verteilt wurden, auf Zuruf vorlesen müssen, was unter anderem die Funktion hat, Dialoge zu simulieren.
In Dresden sitzen die Zuschauer im Raum verteilt auf Drehstühlen im vorgeschriebenen Abstand. Jannik Hinsch bewegt sich zwischen ihnen in einer Art Weltraumanzug, dessen Helm von innen beleuchtet und mit einem Mikroport ausgestattet ist. Eine Ganzgesichtsplexiglasmaske erlaubt es dem Schauspieler, sich den Zuschauern fast intim zu nähern. Er berichtet in einer Manier, die an den Off-Erzähler in älteren Filmen erinnert, von seiner – mitunter trivialen – Biographie als Sohn einer suizidalen Mutter. Nicht die selbstmordgefährdete Mutter ist das Thema dieses Monologs, sondern deren psychische Wirkung auf ein Kind. Der Sohn stellt als Gegenmaßnahme zu den Depressionen und zum schwindenden Lebenswillen der Mutter eine Liste zusammen von „every brilliant thing“, von „all dem Schönen“, das das Leben lebenswert macht. Aber: „Die Liste hatte meine Mutter nicht gerettet. Natürlich nicht.“ Wie stets, wo es um den Tod geht, droht die Sentimentalität. Aber es ist ein Verdienst von Macmillans schönem Text und des Theaterabends, dass sie diese Gefahr umschiffen, nüchtern, ja stellenweise fast humorvoll daherkommen. Dabei wird Jannik Hinsch Einiges abverlangt. Er muss auf die Repliken der Zuschauer reagieren, geistesgegenwärtig improvisieren. Das macht er vorzüglich. Eine Zuschauerin muss aus dem Klappentext zur Reclamausgabe der Leiden des jungen Werthers vorlesen. Und fantasiert ihre „Rolle“ weiter. Jannik Hinsch findet in den Text zurück.
Szenisch passiert nicht viel. Quadratische Waben mit herabhängenden Streifen senken sich über die einzelnen Zuschauer und verstellen den Blick auf den Erzähler, der im Schutz solcher Fransen, „unsichtbar“ hochgezogen wird. Das Publikum muss Bücher, die unter den Sitzflächen deponiert waren, auf Jannik Hinsch werfen. Die „Uli“ aus dem Publikum muss mit Hinsch vierhändig Klavier spielen.
All das Schöne belegt einmal mehr die Bedeutung von Songs für die Generation, der Duncan Macmillan angehört. So liefert unter anderem Daniel Johnston mit seinem Some things last a long time ein Stichwort und einen Assoziationsraum.
An der Wand steht ein Fragment aus der Liste: „Wenn man nicht weiß, ob das schon das Ende ist.“ Ende.
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Thomas Rothschild - 21. September 2020 ID 12479
ALL DAS SCHÖNE (Kleines Haus 2, 20.09.2020)
Regie: Mina Salehpour
Bühne: Andrea Wagner
Kostüm: Maria Anderski
Musik: Sandro Tajouri
Licht: Richard Messerschmidt
Dramaturgie: Katrin Breschke
Mit: Jannik Hinsch
Premiere am Staatsschauspiel Dresden: 13. September 2020
Weitere Termine: 03., 17., 18.10.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/
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