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Premierenkritik

DDR-

Aufarbeitungs-

roman



Umkämpfte Zone am Staatstheater Cottbus | Foto (C) Marlies Kross

Bewertung:    



Ist das Theater das „Beerdigungsinstitut der Weltgeschichte“, wie es Alexander Kluge in einem seiner legendären Gespräche mit Heiner Müller formuliert? Oder ist Theater „vielleicht eine Möglichkeit, kollektive Erfahrungen festzuschreiben und tradierbar zu machen“, wie Heiner Müller ergänzt? Vermutlich ist es von ein wenig beidem, vorausgesetzt man ist bereit, sich der Konfrontation mit der Vergangenheit zu stellen, um sie im Spiel gemeinsam mit dem Publikum zu verarbeiten und Erlebtes entsprechend einzuordnen. Ruth Heynen, am Staatstheater Cottbus seit dieser Spielzeit Schauspieldirektorin unter dem neuen Intendanten Stephan Märki, hat diese Passage aus dem Kluge-Müller-Gespräch ihrem Beitrag für das Programmheft der ersten Schauspielinszenierung vorangestellt.

Premiere hatte eine Bearbeitung des Romans Umkämpfte Zone von Ines Geipel durch Armin Petras, der als neuer Hausautor von Bremen nach Cottbus gewechselt ist. Petras hat eine ganz ähnliche Biografie wie die 1960 in Dresden geborene ehemalige DDR-Leistungssportlerin, die noch vor der Wende 1989 über Ungarn in den Westen flüchtete und seither mit ihren Buchveröffentlichungen und in Interviews mit der Presse immer wieder die ungenügende Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, u.a. die flächendeckende Dopingpraxis, anmahnt. Beider Väter haben für den Auslandsdienst der Staatsicherheit gearbeitet. Und wie Geipel beschäftigt sich auch Petras unter seinem Autoren-Pseudonym Fritz Kater immer wieder mit DDR-spezifischen Themen.

Nicht zuletzt im Zuge des 30. Jahrestags der Wiedervereinigung rückte Ines Geipel wiederholt die mehr als 3 Millionen Opfer der DDR-Diktatur, die ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit nicht anwesend sind, in den Fokus. Sie spricht von 50 Jahren Diktaturzeit im Osten, die nach wie vor nicht aufgearbeitet sind. Das stößt natürlich vor allem in den fünf neuen Bundesländern auf eine ganz unterschiedliche Resonanz. Der Roman heißt im Untertitel Mein Bruder, der Osten und der Hass. Anhand der eigenen Familiengeschichte beleuchtet sie die dunkle Vergangenheit der zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen, die bis heute totgeschwiegen wird. Womit sie u.a. den Siegeszug der AfD im Osten Deutschlands erklärt. Ihr Nazigroßvater, der mit seiner Familie im Zweiten Weltkrieg in Riga stationiert war, konnte seine SS-Kariere in der DDR unter den Teppich kehren. Der Vater wird nach hohen Posten im DDR-Bildungssystem in den 70er Jahren von der Stasi zum Auslandsagenten ausgebildet und auch immer wieder mit wechselnden Identitäten in der Bundesrepublik eingesetzt.

All das wurde in der Familie Geipel auch nach der Wende beschwiegen. Die Kriegstraumata sollen durch Schlaf geheilt werden. Psychologisch gesehen bezeichnet Ines Geipel das als eine Schlafkammer des Vergessens. In Wahrheit würde aber alles nur im Inneren eingeschlossen. Von der Schlaf- zur Einschlussgesellschaft besiegelt 1961 durch den Bau der Mauer. Die Generation Mauer im Osten, vor allem die Männer darunter, macht Geipel dann auch als den typischen AfD-Wähler aus. Das Buch speist sich da vor allem aus Archivrecherchen und persönlichem Erleben. Wo die Autorin Geipel unversöhnlich mahnt, versucht Regisseur Petras zunächst einmal das Publikum mitzunehmen, nicht ohne gleich zu Beginn die Schauspielerin Susann Thiede aus dem Inneren eines schwarzen, sich nach hinten verjüngenden Trichters, der die gesamte Bühne einnimmt, vom Echolot des Schmerzes erzählen zu lassen. Dagegen drängen Schlussstrichargumente oder Forderungen nach Versöhnung.

Wie im Roman rahmt auch in der Inszenierung die innige Beziehung Geipels zu ihrem jüngeren Bruder, der 2018 infolge eines Hirntumors starb, die Familiengeschichte und die historischen Berichte, die Geipel aus Akten und anderen Publikationen zur DDR recherchiert hat. Johann Jürgens (langjähriger Petras-Darsteller) als Bruder Robby mit Kopfverband auf einer Krankenausliege wird von der Schwester besucht. Petras doppelt diese Figur durch Suzann Thiede und ihre Tochter Lucie Luise Thiede. Beide sind auch in den Rollen der Mutter und Großmutter zu sehen. Im Roman schreibt Geipel aus der Erinnerung an ihren bereits verstorbenen Bruder. Hier ist Robby immer mit anwesend, obwohl er sich bis zuletzt geweigert hat, die Stasiakten des Vaters zu lesen. „Warum soll ich das auskämpfen?“ sagt Johann Jürgens einmal. Verdrängung bis zum Ende, was sich auch in der Rede des Sohns am Grab des Vaters manifestiert. Vater und Großvater werden von Gunnar Teuber (ebenfalls aus der Petras-Riege) verkörpert. Er wirkt in Hut und Anzug wie eine Karikatur auf Erich Honecker.

Auch sonst fährt Petras einiges an Ostklischees auf, lässt die SchauspielerInnen in Kostümen der beliebten DDR-Puppen Sandmännchen, Pittiplatsch, Schnatterinchen, Herr Fuchs und Frau Elster die „Elternkisten“ Robbys durchkramen. Es erklingen Ostschlager von Manne Krug, oder der Mont Klamott von Silly und - wir sind in Cottbus - die Lokalmatadoren Sandow mit ihrem Nachwendehit Born in the GDR. Als maine theme des Petras-Soundtracks wird aber immer wieder der Song Lippy Kids von der britischen Band Elbow angespielt. Die Zeile „Build a rocket boys!“ verweist auf eines der Kinderspiele von Bruder und Schwester. Kleine poetische Erinnerungssplitter, die Geipel immer wieder vor und ans Ende der einzelnen Kapiteln stellt. Dazwischen tut sich ein Abgrund aus verdrängter häuslicher Gewalt und allgemeiner Geschichtsklitterung auf, die Armin Petras wohl dosiert über den Abend verteilt. Einiges davon wird einem Cottbuser BürgerSprechchor in den vielstimmigen Mund gelegt. Sie geben jüdische Bürger aus dem „Schlachthaus Riga“ oder ein Defilee sozialistischer Werktätiger zum 1. Mai, wobei Gunnar Teuber alles minutenlang hochleben lässt.

Wird vor der Pause die Geschichte der Großeltern noch eher beiläufig erzählt, wobei Petras Geipels recht breite Ausführungen zur stalinistischen Ulbricht-Gruppe und dem Mythos vom heldenhaften Kampf der kommunistischen Buchenwaldhäftlinge eher kurz streift, werden das „Terrorleben“ des Vaters für das „Organ“ und sein enthemmtes Ausleben von Gewalt gegenüber den Kindern bildlich recht plastisch in Szene gesetzt. Recht plötzlich kulminiert das Ganze dann aber in „Merkels Flüchtlingssommer“, der Dresdner Pegida und den Biografien der NSU-Täter. „Die NSU-Mord, unser 11. September!“ skandiert ein punkiger Mädchenchor. Recht melancholisch findet der Abend sein Ende mit dem Karussell-Song Als ich fortging, den Johann Jürgens zur Gitarre singt. Alles in Allem ein ganz typischer Petras-Abend mit Höhen und Tiefen, der aber insgesamt nicht zuletzt wegen des spielfreudigen Ensembles den schwierigen Geipel-Stoff relativ gut in den Griff bekommt.



Umkämpfte Zone am Staatstheater Cottbus | Foto (C) Marlies Kross

Stefan Bock - 26. Oktober 2020
ID 12559
UMKÄMPFTE ZONE (Staatstheater Cottbus, 24.10.2020)
Regie/Bearbeitung: Armin Petras
Bühne: Peta Schickart
Kostüme: Cinzia Fossati
Lichtdesign: Norman Plathe
Musik: Jörg Kleemann
Dramaturgie: Tanja Ruzicska und Lisa Mell
Besetzung:
Schwester 1 ... Susann Thiede
Schwester 2 ... Lucie Luise Thiede
Bruder ... Johann Jürgens
Vater, Großvater ... Gunnar Teuber
Chorführer ... Michael von Bennigsen
BürgerSprechChor des Staatstheaters Cottbus
Uraufführung war am 24. Oktober 2020.
Weitere Termine: 01., 06., 15.11.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatstheater-cottbus.de/


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