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Premierenkritik

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Schaurige



Ines Marie Westernströer als Martin von Essenback in Die Verdammten am Schauspiel Köln | Foto © Birgit Hupfeld

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Es bleibt still zu Anfang. In der Ferne heulen der Wind und einige Käuzchen. Kunstschnee rieselt fortwährend von der Bühnendecke. Die Breitwandbühne zeigt eine nächtliche schneebedeckte Landschaft mit Tannen und kleinen Hügeln. In der Mitte thronen Überreste einer Villa aus schwarzem Holz. Die Fenster sind aufgebrochen. Menschenkörper liegen wie Leichen schneebedeckt vor der Ruine. Sie gehören scheinbar zum Inventar, wie der zentral platzierte Konzertflügel oder eine lange Tafel mit umgekippten Stühlen. Bald tritt eine dunkle Gestalt langsam die Treppe hinunter. Sie setzt sich an die Tafel wie ein blasses Gespenst. Wie Zombies erwachen nun die buckligen Gestalten im Bühnenvordergrund zum Leben.

Ersan Mondtag inszeniert am Schauspiel Köln Die Verdammten nach dem gleichnamigen streitbaren Film des italienischen Regisseurs Luchino Visconti von 1969. Viscontis Film thematisiert verheerende Verwicklungen zwischen Wirtschaft und Faschismus. Deutsche Industrielle machten im Dritten Reich allzu bereitwillig gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten. Sie bereicherten sich an den Opfern des Terrorregimes. Es gibt deutliche Anspielungen auf die Geschichte des Rüstungskonzerns Krupp. Der Geldadel wird eine Marionette der Nazis und steuert so zum Niedergang von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bei.

Bei Regisseur Ersan Mondtag, der zusammen mit Christine Ruynat auch das Bühnenbild besorgte, werden die Faschisten zu hässlichen Zombies und Untoten. Sie erheben sich anfangs nur langsam vom schneebedeckten Bühnenboden. Mondtags Theateradaptation beginnt symbolträchtig in der Nacht des Reichstagsbrandes 1933. Der Baron Konstantin von Essenbeck tauscht angesichts der Machtergreifung Hitlers kurzerhand seine Konzernführung aus. Gleichzeitig behauptet er, mit den Nationalsozialisten nichts zu schaffen zu haben. Die alte Konzernführung wird noch in der gleichen Nacht ermordet. Ein Kampf um die Macht entspinnt sich unter den Hinterbliebenen.

Alles ist, wie die starken Bildeffekte, ein wenig überdimensioniert. So zeigt etwa ein überlebensgroßes Porträt Adolf Hitler als einjähriges, niedliches Baby. Man sucht das Fanatische in seinem Blick und glaubt es dann auch zu finden. Es geht in dem Drama auch um Verletzbarkeit von Kindern, denn es wird szenisch auch Kindesmissbrauch dargestellt. Das Bild wird später durch ein riesengroßes Porträt des verstorbenen Herrschers des Hauses von Essenbeck ersetzt.

Die Gesichter der Darsteller werden teils maskenhaft durch dicke Schichten aus Latex und Schminke entstellt. Auch die Kostüme von Teresa Vergho wirken oft grotesk deformierend. Ein siebenköpfiger Chor trägt so schweinsartig fleischfarbene Knautschmasken. Zwei Frauen spielen (wie schon in Ersan Mondtags Die Räuber-Inszenierung) zentrale Männerrollen. Benjamin Höppner gibt ein köstliches Bild als brutal anmutendes, grobschlächtig-massiges SA-Mitglied, das sich lustvoll von Gummischwänzen bepinkeln lässt, bevor es während einsamer Monologe erschossen wird. Auch Yvon Jansen sticht hervor. Sie zieht als Kriegswitwe Sophie perfide und skrupellos die Strippen in dieser abstoßenden Gemeinschaft. Bald wird sie jedoch durch ihren eigenen Sohn Martin (Ines Marie Westernströer) – bockig, moralisch-geistig verwirrt, mal pädophil und mal einfach nur hysterisch – in Grausamkeit überboten. Die Rolle des Martin verhalf einst Helmut Berger, Viscontis langjähriger Weggefährte, zum internationalen Durchbruch. Seine Persiflage von Marlene Dietrich in ihrer Rolle der Lola in Der blaue Engel war ein legendärer Kinomoment in Die Verdammten. Westernströer stimmt auch kurz seinen Chanson-Part an: „Kinder, heute Abend suche ich mir was aus“. Doch die schillernde Travestie von damals weicht einer unheimlichen und unterkühlten Entrücktheit.

Die zahlreichen Bezüge, die Visconti etwa zu Richard Wagners Götterdämmerung setzt, gehen bei Mondtag ein bisschen verloren. Er verfremdet und verformt das Geschehen und die politischen Hintergründe zu sehr. Fragen der zerstörerischen Allianz zwischen der Industrie-Aristokratie und aufstrebenden nationalsozialistischen Machthabern, der Schuld, Scham, Schwäche und Schande wird nur wenig nachgegangen. Mondtags Figuren erscheinen der Reihe nach inhuman; wie kalte und grobe Monstren, ohne Fallhöhe und mögliches Entwicklungspotenzial. Doch die erschreckenden, künstlich anmutenden Bilder atmosphärischer und menschlicher Kälte strapazieren über kurz oder lang. Sie lassen einen gar bald auch kalt.



Die Verdammten am Schauspiel Köln | Foto © Birgit Hupfeld

Ansgar Skoda - 11. Dezember 2019
ID 11879
DIE VERDAMMTEN (Depot 1, 07.12.2019)
Inszenierung/Bühne: Ersan Mondtag
Mitarbeit Bühne: Christine Ruynat
Kostüm: Teresa Vergho
Licht: Rainer Casper
Musik: Beni Brachtel
Dramaturgie: Beate Heine
Chorische Einstudierung und Choreografie: Jonas Grundner-Culemann
Sound Design: Marco Bussi
Mit: Margot Gödrös, Yvon Jansen, Elias Reichert, Nicolas Lehni, Ines Marie Westernströer, Benjamin Höppner, Jonny Hoff, Yuri Englert, Merle Wasmuth, Mika Kickbusch, Pauline Essmann, Marta Arteaga, und Fiona Angelo sowie dem Chor mit Antonia Bockelmann, Dennis Bodenbinder, Campbell Caspary, Laura Friedmann, Marlene Goksch, David Kösters und Paul Langemann
Premiere am Schauspiel Köln: 7. Dezember 2019
Weitere Termine: 10., 13., 18., 26.12.2019 // 9., 25., 26., 30.01.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln/


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