Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Performance

Kanon

She She Pop reenacten mit Gästen im HAU Hebbel am Ufer ganz persönliche Erinnerungsmomente aus 20 Jahren postdramatischem Theater

Bewertung:    



Das HAU Hebbel am Ufer - Heimstatt und Bühne von Kunstformen wie Tanz, Theater und Performance - feiert momentan mit dem Festival Alles ist Material. 20 Jahre "Postdramatisches Theater" den Gießener Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann und seine 1999 veröffentlichte Schrift Postdramatisches Theater. Für das selbst schon über 20 Jahre aktive Performancekollektiv She She Pop gilt Lehmann wohl auch als so etwas wie der Theorie-Vater der Performativen Kunst oder, zumindest das Buch, als Legitimation ihres künstlerischen Schaffens. Obwohl sich der Autor selbst nicht als Einflussquelle verstand: „...sehe ich doch Theorie als etwas an, das danach kommt, auf Begriffe bringt, was von Künstlern zuvor kreativ erfunden wurde“, schrieb Lehmann anlässlich 15 Jahre Postdramatisches Theater in einem Beitrag über die Postdramatische Chance der Autoren. Und das ist ja das entscheidende Kriterium postdramatischen Theaters, die Abkehr vom kanonischen Text, also auch vom klassischen Autor von Dramentexten. Gleiches gilt auch für andere Gruppen wie Rimini Protokoll, Gob Squad oder den Dokumentartheaterveteran Hans-Werner Kroesinger. Sie alle wurden geschult bei Hans-Thies Lehmann und beim leider kürzlich verstorbenen Andrzej Wirth im Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen. Aber auch der Autor und Regisseur eigener Werke, René Pollesch, Diskurstheaterkönig und designierter Volksbühnenintendant, gehört durchaus zum illustren Kreis der sogenannten Postdramatiker aus der Gießener Kaderschmiede.

*

She She Pop haben nun zu einem ganz besonderen Geburtstagsständchen ins HAU 2 geladen. Da es anscheinend an einem gültigen Kanon postdramatischen Theaters im Allgemeinen und von Performance-Kunst im Speziellen mangelt, hat sich die Truppe bestehend aus Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf gedacht, einen solchen, aus der Erinnerung ganz persönlicher Theatermomente bestehenden Kanon gemeinsam mit wechselnden Performance-Gästen wie in diesem Fall dem britischen Plan-b-Performer Daniel Belasco Rogers, der deutschen Choreografin, Performance- und Medienkünstlerin Antonia Baehr, dem französischen Tänzer und Castorf-Mimen Jean Chaize und der jungen, 2000 in Berlin geborenen Regisseurin und Performerin Zelal Yesilyurt zu erstellen. Verdiente Vorbilder sind dafür immer hilfreich. Und so tragen alle mit Ikonen der Performance-Kunst bedruckte Schürzen über ihren baumwollenen Nachthemden (Kostüme: Lea Søvsø). Zu erkennen sind da u.a. in Werk oder Bild Marina Abramović, Joseph Beuys, Valie Export, Yves Klein, Yoko Ono oder Pipilotti Rist. Das sind dann schon auch Namen, die man gar nicht unbedingt zuerst im Theater verorten würde. Man kennt ihre Werke von Filzanzug, Fettecke über Bodypainting und Genitalpanik-Hose bis zur Installation und Videoaktion vornehmlich aus den angesagten Museen der zeitgenössischen Kunst. Aber auch das ist ja ein Merkmal postdramatischen Theaters, dass es sich theaterfremde Kunstformen zu eigen macht.

Ein besonderes Faible hat man hier aber vor allem für den zeitgenössischen Tanz. Bereits zu Beginn erinnert Lisa Lucassen Momente aus dem immer wieder in vielen Städten (so auch 2017 in der Berliner Volksbühne) aufgeführtem Tanzstück The show must go on von Jérôme Bel. Jean Chaize beschreibt minutiös eine Szene aus Johann Kresniks (ebenfalls vor kurzem verstorben) 1988 in Heidelberg aufgeführtem Tanztheater Macbeth. Das Bühnenbild stammte vom noch lebenden österreichischen Maler Gottfried Helnwein. Bühne und Stück mit viel Blut aus Eimern und Wannen feierten übrigens erst im April dieses Jahres ein Reenactment beim ImPulsTanz in Wien. Und das Reenactment ist dann auch das Prinzip des Kanon-Abends von She She Pop. Allerdings in einer wie im Moment improvisierten Performance der anderen zu den jeweiligen Erinnerungssplittern.

Das wirkt zum Teil komisch aber auch mal peinlich berührend, wenn das Ensemble eine von Constanza Macras mit ihnen eingeübte Choreografie nach Tanz-Ikone Pina Bausch vorführt. Eher eine Parodie, auch aus rein urheberrechtlichen Gründen, wie Ilia Papatheodorou erklärt. Bei Johanna Freiburgs Erinnerung einer recht eindrücklichen Machtvorführung der amerikanischen Extrem-Performerin Ann Liv Young (Cinderella) entblößt Jean Chaize sein Hinterteil und macht ein Häufchen auf das weiße Laken unter ihm. So stilecht hätten wir den im Geiste Freiburgs wiedererstandenen Schockmoment der damaligen Aufführung nicht gebraucht. Aber sei’s drum. Reenactete Kunstkacke wird hier nachträglich zum Kanon erhoben. Zur allgemeinen Auflockerung des Publikums kann man dann mit den Sitznachbarn noch eigene Herzensmomente aus der Erinnerung zaubern. Zwei davon werden dann auch auf der Bühne nachgespielt. Eher harmloses Stadttheater mit Ödipus Stadt am Deutschen Theater und eine Freiluftperformance von Kunstdiktator Jonathan Meese mit Starschauspieler Martin Wuttke zum Thema Nietzsche im Schlosspark Neuhardenberg, die der Rezensent auch noch in bester Erinnerung hat. Ansonsten feiert sich hier eine Kunstszene, die wohl sonst nicht viel zu feiern hat, außer eben einen Namenspatron, mit viel Ironie und Lust am eigenen Scheitern, einen allgemeingültigen Kanon für die flüchtige Bühnenkunst zu etablieren. Kaum neue Erkenntnisse zum Postdramatischen bringt dieser ansonsten lässliche Performance-Abend. Und für kanonisierte Theaterkunst gibt es eigentlich Goethe- und Schiller-Festspiele.



Kanon von She She Pop | Foto (C) Benjamin Krieg

Stefan Bock - 27. November 2019
ID 11850
KANON (HAU2, 25.11.2019)
von She She Pop

Bühne: Sandra Fox
Kostüme: Lea Søvsø
Lichtdesign: Michael Lentner
Sounddesign: Jeff McGrory
Choreografie: Constanza Macras
Mit: Daniel Belasco Rogers, Antonia Baehr, Jean Chaize und Zelal Yesilyurt
Premiere war am 22. November 2019.
Weitere Termine: 23.-25.01.2020 (Mousonturm, Frankfurt am Main), 07.-09.02.2020 (Münchner Kammerspiele), 12.-14.03.2020 (HAU Hebbel am Ufer)
Eine Produktion von She She Pop in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm, FFT Düsseldorf und Münchner Kammerspiele


Weitere Infos siehe auch: https://sheshepop.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

Performances

Premierenkritiken



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:



THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)