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Verschrobene

Schnitzeljagd



Handkes Zdeněk Adamec am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair

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Zeitlos, unbestimmt ist der Spielort in Peter Handkes neuem Stück Zdeněk Adamec, das im Sommer bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde - als „Weiträumige Szene, mit Öffnungen nach allen Seiten, dicht bevölkert mit Feierabendleuten. (…) Ein öffentlicher Ort, eine jedermann zugängliche Lokalität, welche als Treffpunkt dient, unbestimmbarer Natur, … Lokalität, welche als Treffpunkt dient, unbestimmbarer Natur, (…), möglicherweise ein ehemaliges Klosterrefektorium in der spanischen Provinz Ávila, oder wo, oder der Kleinstadt-Tanz‑und-Festsaal, mit einer (leeren) Thekenecke, von Humpolec in Böhmen, oder wo. Zeit: jetzt oder sonstwann.“ So beschreibt es der Autor in einer vorangestellten Regieanweisung. Und so unbestimmt wie Ort und Zeit ist auch der Text. Ein Suchen nach der Wahrheit, einer in Vergessenheit geratenen Geschichte wie in vielen von Handkes Prosatexten. Als Theaterstück so poetisch verschroben und sperrig wie schon das letzte noch von Claus Peymann für das Berliner Ensemble inszenierte mit dem langen Titel Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Der Unbekannte im neuen Stück heißt Zdeněk Adamec, der Rand der Landstraße liegt im Nirgendwo der tschechischen Provinz. Nach Salzburg fand das Stück nun als deutsche Erstaufführung im Deutschen Theater Berlin statt, wo es Jossi Wieler, seines Zeichens Schweizer Opern- und Theaterregisseur, an den Kammerspielen inszenierte.

Handke beschäftigt die Geschichte des jungen Tschechen aus der böhmischen Kleinstadt Humpolec, der sich 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz mit fünf Litern Benzin übergoss und anzündete, schon etwas länger. Seinerzeit wurde die Aktion in der öffentlichen Meinung eher als Tat eines Verrückten bezeichnet. Sie sei im Gegensatz zur Selbstverbrennung von Jan Palach, der sich 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings an gleicher Stelle verbrannte, nicht im selben Maße legitimiert. Zdeněk Adamec wird als Sonderling und Einzelgänger beschrieben. Er gehörte zu einer Gruppe von Computer-Hackern, Darkers genannt, die im Internet Anschläge auf Stromnetze verübte und somit Städte oder Stadtteile von Prag in Dunkelheit versetzte. Das allein scheint schon Grund genug, die Motive des 18jährigen in Zweifel zu ziehen. Ein die Natur liebender und in der eigenen Welt lebender Mensch. Ein Antiheld, der die Segnungen der kapitalistischen Moderne und Zerstörung der Umwelt ablehnte. Ein heutiger politischer Aktivist sieht anders aus. Handke springt ihm mit seinem Stück zur Seite, natürlich nicht ohne seine persönliche Sicht auf die Gegenwart einzubringen.

Peter Handke ist nicht erst seit den Protesten gegen die Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn in der Kritik. Seine Äußerungen zum Balkankrieg und Parteinahme für die Serben sowie die Kritik an der für ihn einseitig berichtenden westlichen Presse haben ihn zu einer streitbaren Person gemacht. Ebenso streitbar wie Zdeněk Adamec, mit dessen Geschichte Handke natürlich durch die Blume der Poesie auch auf sich aufmerksam macht. Einige Passagen aus dem Text legen das durchaus nahe. „Recherchen, du? Ganz was Neues!“ sagt hier eine Person zur anderen, die vorgibt über den Titelhelden recherchiert zu haben. „Da will uns einer mit typisch tschechischen Selbstverbrennungsstories und Aktualitätenhorror das Fest verderben.“ betont eine andere Person ihr Missbehagen gegenüber Aktualitätenwahn und dem Schwall alltäglicher apokalyptischer Nachrichten.

Auf mehrere nicht näher bezeichnete ProtagonistInnen hat Handke seinen Rehabilitationsversuch im Streit der Meinungen, Mutmaßungen und vermeintlichen Fakten verteilt. Regisseur Wieler lässt dazu drei Schauspielerinnen (Lorena Handschin, Linn Reusse, Regine Zimmermann) und drei Schauspieler (Felix Goeser, Marcel Kohler, Bern Moss) in alltäglicher Straßenkleidung auftreten. Sie führen Musikinstrumentenkoffer mit sich und sitzen auf Bänken in einem kapellenartigen Kasten, dessen Wände mit Marien-Bildnissen und anderen weiblichen Heiligen bemalt sind. Eine Kapelle in einer Kapelle. Es könnte dem Text nach auch ein Wirtshaus oder ein Wartesaal eines Busbahnhofs sein. Vielleicht jene, auf der Adamec sein letztes Gespräch mit einer Klofrau führte. Eine kaputte Jukebox springt immer wieder an. Ein Ruck geht durch die Wartenden, die wechselnd versuchen, sich der Person Adamec zu nähern. Sie breiten Ereignisse und Anekdoten aus dessen Kindheit aus. Mit dem Vater, einem Friedhofssteinmetz, dem der Sohn immer wieder die Werkzeuge verlegte, oder der Mutter, die ihn als Kind auf einer Waldlichtung alleinließ, ein Ort, der lange eine Zuflucht für den Jungen war, bis sich die harte Gegenwart vor die utopische Traumwelt schob.

„Bitte macht keinen Narren aus mir.“ steht im Abschiedsbrief von Zdeněk Adamec. Ob Handke das nachträglich mit seiner wortspielerischen „Schnitzeljagd“, die mal ironisch mal wie Psalmen gebetsmühlenartig am Ohr der Zuhörenden vorbeizieht, gelungen ist, bleibt fraglich. Auch szenisch gibt es nicht sehr viel zu sehen. Ein wenig choreografiertes Spiel mit Mimik und Gestik, Auf- und Abgehen, Kichern und Weinen. Nur selten ein emotionaler Ausbruch. Ansonsten hat die Regie nicht viel zu tun. Eine verschrobene Märchenstunde in verschachtelten Haupt- und Nebensätzen. Eine Handke-Huldigung für eingefleischte Fans, zu denen sich hier kaum neue gesellen dürften. Am Ende driftet der Kasten, der schon zuvor kleine Risse bekommen hatte, gänzlich auseinander, Vielleicht der plötzliche Einbruch der Außenwelt in die Innenwelt. Wie schon zu Beginn ist wieder das anschwellende Einstimmen eines Orchesters zu hören. Der Vorhang zu und alle Fragen offen.



Handkes Zdeněk Adamec am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair

Stefan Bock - 24. Oktober 2020
ID 12552
ZDENEK ADAMEC (Kammerspiele, 22.10.2020)
Regie: Jossi Wieler
Bühne / Kostüme: Jens Kilian
Musik: Arno Kraehahn
Licht: Thomas Langguth
Dramaturgie: Tilman Raabke und Bernd Isele
Mit: Felix Goeser, Lorena Handschin, Marcel Kohler, Bernd Moss, Linn Reusse und Regine Zimmermann
Uraufführung bei den Salzburger Festspielen: 2. August 2020
DEA am Deutschen Theater Berlin: 21. Oktober 2020
Weitere Termine: 27.-30.10. / 05., 06., 27.-29.11.2020


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/


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