Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 6

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Neue Stücke

Multimediale

und visuell

überfordernde

Materialschlacht



Die Stadt der Blinden am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Marcel Urlaub

Bewertung:    



Der Roman Die Stadt der Blinden von José Saramago erzählt die Geschichte einer Gruppe von erblindeten Menschen, die während einer Epidemie, bei der nach und nach immer mehr Bewohner einer Stadt an einer weißen Blindheit, genannt „das weiße Übel“, erkranken, in einer verlassenen Irrenanstalt isoliert werden, die von der Armee bewacht wird. Dort sich selbst überlassen, verrohen sie zunehmend. Die sanitären Einrichtungen funktionieren nicht mehr, die Essensrationen reichen nicht aus, und schließlich übernimmt eine Gruppe „niederträchtiger“ Blinder das Kommando und verlangt erst die Wertgegenstände der anderen Blinden für das Essen und dann schließlich die Frauen.

Hauptpersonen des Romans sind ein Augenarzt, in dessen Praxis der erste an einer Ampel in seinem Auto Erblindete kommt, und einige der dort anwesenden Patienten. Die Frau des Arztes, einzige Sehende unter den Blinden, versucht zu helfen, verzweifelt aber immer wieder an dem, was sie sieht, und wünscht sich selbst zu erblinden. Der portugiesische Literaturnobelpreisträger Saramago beschreibt das alles in einem kaum durch Punkte, Absätze und ohne Anführungszeichen gegliederten Textfluss von direkter Rede bzw. Erzählung in der dritten Person. Mal aus Sicht der Frau des Arztes, mal aus der eines imaginären Erzählers, der Bericht erstattet über die Vertierung der in der Irrenanstalt internierten Menschen, die blind nicht mehr zwischen Gut oder Böse unterscheiden können, entsteht ein verstörendes Bild der Entmenschlichung.

*

Der Nochintendant des Theaters Dortmund Kay Voges macht daraus als Regiegast am Deutschen Schauspielhaus Hamburg eine wie gewohnt große multimediale und visuell überfordernde Materialschlacht. Pia Maria Mackert hat dem Regisseur ein durch große verglaste Fenster einsehbares zweistöckiges Haus auf die Drehbühne gebaut. Im Inneren filmen wie bei Frank Castorf zwei Livekameramänner. Ihre Bilder werden auf verschiedene Leinwände am Gebäude oder in direkter Projektion darauf übertragen. Die Gleichzeitigkeit der in verschiedenen Räumen ablaufenden Story erzeugt beim Publikum eine diffuse Wahrnehmung der Ereignisse. Im ersten Teil des Abends spult Voges die Romanhandlung noch relativ originalgetreu ab. Der zweite Teil, nachdem die Gruppe der ersten Blinden die abgebrannte Irrenanstalt verlassen hat und durch die Stadt der Blinden irrt, spielt in Blacks, unterbrochen von kurzen Lichtblitzen, vor einer großen Videoleinwand. Das wirkt im ersten Teil noch wie eine ziemlich aufwendig gestaltete Bebilderung des Romans, am Ende stellt sich beim Publikum aber doch noch so etwas wie eine partielle Blindheit ein. Die in Lichtblitzen gezeigten Tableaus brennen sich auf die Netzhaut. Ein durchaus interessanter aber auch anstrengender Effekt.

Auch personell hat Kay Voges wieder einiges aufgeboten. 21 SchauspierInnen bevölkern nach und nach das Innere des Bühnenbaus, der im Lauf der ersten zwei Stunden immer mehr vermüllt wird. Die Blinden tasten sich durch die Räume, stürzen über Treppen, kotzen und rutschen in ihren eigenen Fäkalien aus. Abgetrennt ist die Bühne zum Zuschauerraum mit einem Stacheldraht-bekrönten Bauzaun. Ein Soldat in Schutzausrüstung stellt hin und wieder Kisten mit Essen hin. Es ertönen martialische bis höhnische Kommandos. Wer das Gelände verlassen will, wird erschossen. Hier begnügt man sich mit zwei Toten. Dem an Wundbrand erkrankten blinden Dieb, gespielt von Matti Krause, der später als trashiger Horrorclown wieder aufersteht, und eine der missbrauchten Frauen, die zu einer rituellen Waschung von den anderen Frauen aufgebart wird. Voges arbeitet nach der Borderline Prozession und Das 1. Evangelium auch hier wieder mit christlicher Ikonografie.

Wie eine Heilige in einer Art Martyrium durchstreift Sandra Gerling als Frau des Arztes immer wieder die Szenerie. Später schreitet sie wie die biblische Judith mit einer Schere zum Tyrannenmord, der einen Aufstand der Blinden und den Untergang des Irrenhauses in einem Brand zur Folge hat. Rauch wabert durch den Zuschauerraum, und das Gebäude geht in durch Video und Lichteffekte erzeugten Flammen auf. „Ich bin der Welt abhandengekommen“, singt Rosemary Hardy und noch andere emotional geladene Songs. Einige wenige Szenen zeigen, neben dem Drang zu überleben, Not und Bedürfnis der Blinden nach zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie der Arzt (Christoph Jöde), den es zur blinden Prostituierten (Julia Schubert) hinzieht. Neben der Frau des Arztes steht hier vor allem der Mann mit der Augenklappe (Markus John) als Sinnbild ungebrochener Menschlichkeit.

Die Drastik des Romans verlängert Voges nur durch die Drastik der Bilder von Schmutz, Fäkalien und Vergewaltigungsszenen in Videogroßformat. Das ist reines visuelles Überwältigungstheater, das mit seinen technischen Effekten der Wirkung des geschriebenen Wortes nicht traut. Ansonsten ist Saramagos Roman wie auch Voges Inszenierung eine schöne Studie menschlichen Verhaltens in absoluten Ausnahmesituationen und diktatorischen Systemen. Nur geht Saramogo in seinem auch als kritischer philosophischer Essay und Parabel über die menschliche Gesellschaft und deren Organisationsformen lesbaren Buchs wesentlich weiter als Voges ihm hier rein visuell folgen kann.



Die Stadt der Blinden am Deutschen Schauspielhaus Hamburg | Foto (C) Marcel Urlaub

Stefan Bock - 1. April 2019
ID 11317
DIE STADT DER BLINDEN (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 30.03.2019)
Fassung von Kay Voges, Bastian Lomsché und Matthias Seier
nach dem Roman von José Saramago

Regie: Kay Voges
Bühne: Pia Maria Mackert
Kostüme: Mona Ulrich
Bühnenbildmitarbeit: Mara Henni Klimek
Director of Photography: Voxi Bärenklau
Videoart: Robi Voigt
Komposition: Paul Wallfisch
Live-Kamera: Marcel Urlaub und Philip Jestädt
Live-Videoschnitt: Martin Langhof
Live-Grading: Severin Renke
Video: Alexander Grasseck, Antje Haubenreisser und Peter Stein
Soundsampling: Dominik Wegmann
Ton: André Bouchekir, Shorty Gerriets und Christian Jahnke
Dramaturgie: Bastian Lomsché
Mit: Michael Weber, Ali Ahmad, Irene Benedict, Patrick Berg, Muriel Bielenberg, Antonia Dreeßen, Ralf Drexler, Carlotta Freyer, Sandra Gerling, Josefine Großkinsky, Rosemary Hardy, Jonas Hien, Markus John, Christoph Jöde, Matti Krause, Philipp Kronenberg, Greg Liakopoulos, Jannik Nowak, Maximilian Scheidt, Julia Schubert und Jakob Walser sowie (im Film) Linda Zervakis und Andreas Beck
Premiere war am 16. März 2019.
Weitere Termine: 17., 23.04. / 08.05. / 02., 14., 20.06.2019


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhaus.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

Neue Stücke

Premierenkritiken



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:





THEATER Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

DEBATTEN
& PERSONEN

FREIE SZENE

INTERVIEWS

PREMIEREN-
KRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski

RUHRTRIENNALE

TANZ IM AUGUST

URAUFFÜHRUNGEN


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)