Tiefe Zweifel
an Leitfiguren
HENRY V durch die Shakespeare at the Tobacco Factory
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Bewertung:
Prinz Harry war ein Partyprinz, und ob er nun als König wirklich geläutert ist, das muss sich erst noch herausstellen: So beginnt Henry V unter der Regie von Elizabeth Freestone mit der Hochzeitsfeier des Ganoven Pistol (auf Krawall gebürstet: Chris Donelly) und der Puffmutter Mistress Quickly (fantastische Bühnenpräsenz: Melody Brown), die bei Shakespeare gar nicht vorkommt. Das Ensemble von Shakespeare at the Tobacco Factory aus Bristol inszeniert gerne modern und spielt damit auch auf die ähnlich umstrittene Vergangenheit des derzeitigen Prinzen Harry von England an, und während des Gastspiels beim Shakespeare Festival in Neuss bleibt nach der Party ein sturzbetrunkener King Henry (Ben Hall) schlafend auf der Bühne liegen.
Erst dann erscheint Chorus (Joanne Howarth), um den berühmten Prolog zu halten, in dem auf das originale Globe Theater der Shakespeare-Zeit eingegangen wird und das die Schlacht von Agincourt thematisiert, einen berühmten Sieg, den die englischen Truppen gegen ihren Erzfeind Frankreich im Jahr 1415 gewannen. Deswegen entschuldigt sich Chorus schon im Voraus für die Enge und Unzulänglichkeit des „hölzernen O“ oder des „Cockpit“ (Hahnenkampftheater), wie das kleine aus Eichenholz gefertigte Theater im Stück genannt wird, dem das Globe in Neuss nachempfunden ist.
Die Rechtmäßigkeit von Henrys Thronfolge steht auf wackeligen Füßen, weil sein Vater Heinrich IV. den legitimen König Richard II. zur Abdankung gezwungen und seinen Thron usurpiert hatte. So wird bei Shakespeare Henry vom Klerus und dem Adel gedrängt, seinen möglichen Anspruch auf den französischen Thron durchzusetzen, wenn nötig mit einer Invasion. Eine alte politische Weisheit besagt, dass man auswärtig einen Krieg anfangen soll, wenn innenpolitisch Unruhen zu erwarten sind, und Henry braucht dringend einen politischen Erfolg.
Im Stück eignet sich der junge Monarch nach und nach die Fähigkeiten eines umsichtigen und geschickten politischen Führers an, er ist nicht gerade ein „Spiegelbild eines christlichen Königs“, als den Chorus ihn überhöht beschreibt, aber auf einem guten Weg, und Chorus entpuppt sich nach und nach als eine Quelle der Desinformation. Nachdem Chorus behauptet hat, dass Englands Jugend für den Krieg entflammt sei, folgt eine Kneipenszene mit älteren Männern, in der ein Streit um Mistress Quickly ausbricht und die frisch gebackenen Soldaten sich schließlich sputen müssen, um den Krieg nicht zu verpassen. Chorus ist das offizielle „Propaganda“-Sprachrohr, das die euphemistischen Nachrichten verbreitet, die mit der folgenden Szene aber meist konterkariert werden. Über ein Mikrophon und Funkgerät auf der Bühne wird mit der Außenwelt kommuniziert, denn Henry ist sich über seine repräsentative Rolle sehr klar, die in der Inszenierung als Medienbewusstsein dargestellt wird.
Freestone hat viele subtile Regieeinfälle, die das Stück erhellen, vor allem aber weiß man trotz der kreuz und queren Doppelbesetzungen der nur aus 13 Schauspielern bestehenden Truppe immer genau, um wen es sich gerade handelt.
Die Frauen spielen überwiegend Männer, denn es gibt nur wenige weibliche Rollen im Stück. Das funktioniert durchweg gut. Im Vereinigten Königreich ist es ziemlich üblich, unabhängig von der Ethnie und zunehmend auch dem Geschlecht der Schauspielenden zu besetzen. Amy Rockson rockt als elegante schwarze Schönheit die Rolle des französischen Heralds Montjoy, Alice Barclay ist als Cousine (ursprünglich Onkel) Exeter eine Stütze für Henry, und Heledd Gwynn vereint die gegensätzlichen Rollen des französischen Dauphins und seiner Schwester Catherine in ihrer Person. Rosie Armstrong mimt gekonnt gleich drei sehr unterschiedliche Männer. Als Bardolph wird sie auf der Bühne hingerichtet und zwar nicht erhängt, sondern in allen Einzelheiten erwürgt.
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King Henry (li. Ben Hall) muss seinen Kneipenkumpan Bardolph (Mitte, Rosie Armstrong) hinrichten lassen | Foto © ChristophKrey
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So kann das Publikum die schmerzliche Erfahrung für Henry nachvollziehen, der mit dem diebischen Bardolph einen seiner Kneipenkumpels töten lassen muss, vom armen Schlucker Bardolph ganz abgesehen. Henry hat sich als Prinz lieber mit diesen Kleinkriminellen und Säufern abgegeben als mit der einschränkenden Welt des Hofes, wozu auch die gestörte Beziehung zu seinem Vater beitrug. Jetzt als König entwickelt er sich zu einem umsichtigen und – für diese Zeit sehr wichtig – gottesfürchtigen Herrscher und muss sich den Notwendigkeiten seiner neuen Aufgaben beugen.
Doch er wird von inneren Zweifeln geplagt, die in der Inszenierung von Elizabeth Freestone besonders hervorgehoben werden. Am Tag vor der Entscheidungsschlacht bei Agincourt läuft Henry als Soldat verkleidet durch sein Camp, und was er dort an Kritik und Bedenken zu hören bekommt, lässt ihn verzweifeln. Er ist an der Talsohle seines Lebens angekommen und durchläuft die dunkle Nacht der Seele, während der er sich aber einer höheren Macht anvertraut und es ihm am Morgen mit neuer Zuversicht gelingt, seine durch Nässe und Krankheit ramponierten Truppen für die Schlacht zu inspirieren.
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King Henry (vorne li. Ben Hall) ist verzweifelt und durchläuft am Vorabend der Entscheidungsschlacht die dunkle Nacht der Seele | Foto © ChristophKrey
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Shakespeare erlaubt angesichts des unerwarteten Sieges der Engländer durchaus Patriotismus und Heroismus, erst im Epilog lässt er Chorus erzählen, dass Henry V. jung starb, alles zunichte ging und letztendlich umsonst war. Damit relativiert er die heroischen Züge des Stücks. Die renommierte Regisseurin Freestone aber verzichtet in ihrer Inszenierung auf diesen wichtigen Epilog und untergräbt den Nationalstolz und das Heldengebaren während des Stückes. Damit verweigert sie Henry die Entwicklung zum „guten König“ , denn der bleibt ein Skeptiker und tiefer Zweifler, und weicht dadurch von Shakespeare ab. Sie zeigt die Bedenklichkeit von Krieg, die Verzweiflung der Menschen und lässt nur einen eingeschränkten versöhnlichen Umgang mit den Ereignissen zu, nimmt also eine deutlich pazifistische Haltung ein. Das Bühnenbild besteht aus Maschendrahtquadern, die als Podest, Sitzgelegenheit oder als Schützengraben dienen, und aus Geröll. Am Ende wird das Geröll zu einem Gräberfeld geharkt und mitten darin wirbt Heinrich um die Hand der französischen Prinzessin Catherine, einer Ehe aus politischem Kalkül heraus, der sich beide unterwerfen müssen. Die bei Shakespeare eher heiter gestaltete Szene ist hier sehr erschütternd, die tröstenden Worte am Schluss hohl und schal. Shakespeare-Puristen mag das nicht so gefallen, aber es reflektiert die heutige politisch-gesellschaftliche Situation. Der Glaube an politische Machthaber ist tief erschüttert, und ein Konzept für eine friedvolle, nachhaltige, sozial gerechte und an Menschen orientierte Politik gibt es noch nicht.
Das Theaterensemble der Shakespeare at the Tobacco Factory hat das Stück zwar noch im heimatlichen Bristol einstudiert, die ersten Aufführungen von Henry V gab es aber erst in Neuss, praktisch eine Welturaufführung der Inszenierung während des Shakespeare Festivals. Deswegen war es eine große Leistung der Gruppe, die ersten öffentlichen Aufführungen auf Tour im Ausland zu bestehen, die auch von Luke Grant als Adeliger auf beiden Seiten und Corey Montague-Sholay sowie David Osmond in den wenigen heiteren Szenen gemeistert wurden. Zachary Powell erwies sich in sämtlichen seiner Rollen als Chamäleon, und Alan Coveney bestach in seinen Aufgaben als Würdenträger unterschiedlicher Couleur durch Souveränität und gute Diktion.
Der textsichere und markante Nachwuchsschauspieler Ben Hall bringt für die Rolle des Henry alle Voraussetzungen mit, hatte aber angesichts der mangelnden Anzahl von Aufführungen noch keine Chance, sich die große und komplexe Hauptrolle schon richtig zu eigen zu machen. Die Kunstfertigkeit und Versatilität der Monologe und Reden kommen zu kurz, was dem Regiekonzept geschuldet sein dürfte, aber trotzdem irgendwie schade ist. Im zweiten Teil nimmt Hall aber die Zuschauer immer mehr mit ins Boot und lässt sie an seinen inneren Konflikten teilhaben. Den tosenden Applaus nach der Aufführung hat das Ensemble redlich verdient. Am Ende ist dann – planmäßig – das Vertrauen in politische Leitfiguren ziemlich beschädigt, was unserer heutigen Realität durchaus entspricht.
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Helga Fitzner - 19. Juni 2018 ID 10764
Kurze Inszenierungsgeschichte
Es gibt eine berühmte Verfilmung von Henry V von 1944 anlässlich der geplanten Invasion Frankreichs durch die alliierten Truppen, um Hitler-Deutschland zu stürzen. Der Schauspieler und Regisseur Laurence Olivier wurde vom damaligen britischen Premierminister Winston Churchill mit einer Leinwandversion beauftragt, die als Durchhaltefilm für die Soldaten gedacht war, was zur Folge hatte, dass Olivier fast alle kritischen Untertöne Shakespeares über den glorreichen Sieg bei Agincourt unterdrücken musste. Lange galt der Film als ultimative Shakespeare-Verfilmung, obwohl die propagandistischen Aspekte beinahe unangefochten im Vordergrund standen. Erst 1989 machte sich ein junger Ire mit seinem Debütfilm daran, dem Stück seine Ausgewogenheit wiederzugeben. Während bei Laurence Olivier kein Tropfen Blut zu sehen ist, zeigte Kenneth Branagh den Horror des Krieges und Henrys Zweifel mit großer Emotionalität. Branagh hatte 1984 die Rolle auf der Bühne der Royal Shakespeare Company in Stratford-upon-Avon (Regie: Adrian Noble) gespielt, der ersten größeren Inszenierung nach dem Falkland-Krieg 1982. Auch Michael Bogdanovs Henry V mit Michael Pennington gilt als Post-Falkland-Version, in der die Rechtfertigung und Fragwürdigkeit von Krieg thematisiert wurden.
Im Jahr 1997 wurde das nachgebaute Globe-Theater in London mit Henry V eröffnet mit Mark Rylance in der Titelrolle und unter der Regie von Richard Olivier. Mark Rylance ist schlichtweg einer der besten Schauspieler an sich, und Richard Olivier gibt heute Seminare für Führungskräfte. Olivier und Rylance erwiesen sich als wahre Goldgräber, die die im Stück verborgenen Schätze gehoben haben. Sie sahen Henry V“ als eine beispielhafte Coming-out-Geschichte einer inspirierten und inspirierenden Führungspersönlichkeit, die alle inneren und äußeren Anfeindungen erfolgreich bewältigt. Der Tiefgang und gleichzeitige Schauwert der damals im historischen Kostüm und in der Eigenart der Elisabethanischen Zeit gespielten Inszenierung suchen heute noch ihresgleichen.
Henry V wird in England immer wieder mal inszeniert, während sich deutsche Theater schwerer damit tun, wegen der patriotischen und den Krieg glorifizierenden Komponenten. Freestone hat der Inszenierungsgeschichte nun eine interessante Post-Brexit-Variante hinzugefügt.
H.F.
Weitere Infos siehe auch: http://www.shakespeare-festival.de
Post an Helga Fitzner
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