Poetisches Potpourri
WOMÖGLICH WELTFREMD als kinotheatrale Wiederverwertung
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Bewertung:
Zwei Frauen [Tine Hagemann und Sophie Wendt] auf einem Floß. Dessen Balken sind Schriftrollen. Sie treiben im leicht bewegten Meer der Erinnerung. Wohin? Sie wissen es nicht. Woher? Vergessen. Vielleicht, so überlegen sie, werden sie, „Schiffbrüchige am Horizont des Unendlichen“, dereinst von Außerirdischen aufgefischt, die ihnen eine Pille gegen Traurigkeit anbieten könnten. Derweil versuchen sie „geraden Kurs“ zu halten, begleitet nur von einem seltsamen Vogel aus Plüsch, halb Möwe, halb Storch. Die Zeit vertreiben sie sich mit einem altmodischen Filmprojektor, er spult ihnen einen Film aus lauter Versatzstücken ihres vergangenen Theater-Lebens ab, kunstvoll montierte Schnipsel, projiziert auf ihr geblähtes Segel aus Papier. Sie müssen ja schließlich wissen, was sie den kleinen grünen Männchen präsentieren.
Dieses Leben umfasst ein halbes Jahrhundert Aufführungen im TamS, dem Münchner Theater am Sozialamt, das in diesem Jahr sein 50jähriges Jubiläum feierte. Es fing an mit den legendären Valentinaden von und mit Philip Arp. Er ist zu sehen, wie er für seine damals ganz junge Partnerin Annette Spola eine Mischung aus Knödel und Würstel erfindet, das „Knürstel“. Oder wie er Bier aus einem Tee- äh, Bierbeutel macht. Oder wie er philosophiert: über die Rolle der Rampe im Theater und den Zuschauer - „ganz wichtig“!
Und weil der wichtige Zuschauer jetzt halt nicht kommen darf, spielt sich das Ganze zu Hause am Computerbildschirm ab. Wir beobachten, wie Helmut Dauner in kurzen Hosen eine Leiter hinaufklettert, um durch ein Fenster des TamS im ersten Stock die Post einzuwerfen. Wir zappen von Brandstiftereien zu Weltuntergängen und sonstigen Katastrophen, lassen uns überraschen von Affengruppen, die nicht vorkommen, erleben Nachtigallen mit der Kettensäge, ungeahnte Adventskalender-“Türl“ und Himmelspforten. Dazu Klassiker von Homer bis Handke, die wir uns „anders vorgestellt“ haben. Unterwegs nach Utopia wird dabei immer wieder ein Zwischenstopp eingelegt: am liebsten mit charmant anachistischem Riesenblödsinn!
Während es auf dem Floß immer gemütlicher und dunkler wird, die beiden Damen dazu versonnen lächeln, verstehen wir endlich, was ein Hörspiel ist: „das Gleiche wie ein Stummfilm, nur umgekehrt“. Wir unterziehen uns einigem philosophischen Sprechunterricht und arbeiten gleichzeitig an mangelhaft gerollten r: “in den Räubern ist die Rolle der Roller nur kurz“. Und lassen uns von der betagten Sprechererzieherin (Charlotte von Bomhard) auch ein für alle Mal übers Wesen der Künste belehren. Sie singt einen Ton: „Das ist Musik. Und weg ist sie!“ Sie malt einen Strich an die Wand. „Malerei. Bleibt.“
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Ein poetischer, komischer und sanft melancholischer Beitrag zum Theater-Shutdown, dem nicht nur das Münchner Volkstheater mit einem innovativen Plan begegnet, sondern auch das kleine TamS, wo aufgrund des engen Zuschauerraums die erforderlichen Abstände keineswegs einzuhalten sind. Unmöglich immer nur jede vierte Stuhlreihe zu besetzen, so viele gibt es gar nicht. Ab Mitte Juni hat man sich deshalb was anderes überlegt, ein „Sommertheater“ der anderen Art. Das TamS spielt für jeweils nur einen einzigen Zuschauer, alle 10 Minuten ist Einlaß für einen anderen. Der wird durch die Räume des Theaters geführt. Es erwarten ihn verborgene Winkel und kleine Geheimnisse. Etwa ein Zeppelinlandeplatz auf dem Dach, ein geheimes Casino im Speicher, eine Tortenmanufaktur im Keller. Hinter der Bühne ein stillgelegter Güterbahnhof und unter dem Foyer ein Stadtbach.....Da wird ein winzig kleines Theater ganz groß!
Am Ende haben es sich die beiden Floßfahrerinnen gut eingerichtet in ihrem Heimkino. Braucht es eine außerirdiche Pille gegen Traurigkeit? Nein. Die beiden nehmen sich an der Hand und das Floß fährt auf gen Himmel wie in Peterchens Mondfahrt: We meet again!
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Womöglich weltfremd mit Claudia Karpfinger und Katharina Schmidt | Screenshot der Online-Premiere auf dem Vimeo-Kanal des TamS Theater in München
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Petra Herrmann - 10. Mai 2020 ID 12229
WOMÖGLICH WELTFREMD (TamS Theater, 09.05.2020)
Regie und Konzept: Arno Friedrich
Ausstattung: Claudia Karpfinger und Katharina Schmidt
Mit: Tine Hagemann und Sophie Wendt u.v.a.
Online-Premiere war am 9. Mai 2020.
Weitere Infos siehe auch: http://www.tamstheater.com/
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