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Uraufführung Wachträume | Theater o.N.

Im Herz

der Finsternis...



Wachträume - ein Panoptikum von und mit dem Theater o.N. | Foto (C) David Beecroft

Bewertung:    



„wer es schafft,
die noch nicht toten
daran zu erinnern,
dass sie leben wollen,
der macht kunst.“


(ronald m. schernikau)



Selten nur, und mit Obacht, begebe ich mich, und sicher kaum freiwillig, in jene Gegenden der Stadt, die derart finster sind, derart verrufen, so derart verkommen. Dorthin, zu, wie selbst Mephistopheles nur zagend auszusprechen wagt, „den Müttern“ (mit Schaudern auch nur wiederholt es Faust!), – zu den Müttern – hinter Bollwerken biologischer Kinder geschützt, durch besitzanzeigende Zärtlichkeiten markiert, sicher sich der jungen Väter, den gut ausgebildeten, gut proportionierten, den jungen Vätern, denen etwa so ein Generaldirektor-Mario-Heinrich-Adorf-Haffenloher von oben und vorn und, besonders intensiv, von hinten die leckeren Opportunistenärsche mit dem grüngelben Geld voll stopft, bis da wieder zusammen wachse, was da no go area, dort in den bedrohlichen Landschaften des blühenden Mitläufertums, auf dem Kinderspielplatz der ganzdeutschen Bundesrepublik, dem dunkelbraungegrünten „Prenzlberg“, wächst, wächst, wächst, immer mehr und mehr…, und so wird es, lächelnd, immer dunkler. Und just dort, hinter den Fassaden, den wie alternde Huren geschminkten, die, nur um gekauft zu werden, ihre Geschichte leugnen, ihre Risse, da, im Dunklen, fast im Herz der Finsternis, ja doch, glimmt mitunter auch Licht, blitzt, funkelt, strahlt und leuchtet es!

Das Theaterchen Theater o.N. ist in der Tat winzig. Aber was dann in dem Zimmer, wo dem Publikum etwa 50 Plätze bleiben, statt hat, ist schlichtweg großes Theater. Ein Inselchen, wie gesagt: ein geistiger Lichtblick. Ein Brötchen, um Tausende zu speisen. Kunst kann man ja bekanntlich doch essen, man nährt damit, wenn sie gut zubereitet und serviert wurde, Seele, Geist und Herz: hier ist das Bankett reichlich, und es vermehrt sich wie von selbst, eben wie im „Wachtraum“: überlebensnotwendig.

Die so benamte Stückkreation [Wachträume] ist fast ein Bewegungstheater mit Texten oder doch ein Schauspiel mit Bewegung? Es steht ungebrochen, wie es scheint, in der Tradition des einstigen freien DDR-Theaters „Zinnober“, aus dem es hervor ging, und in der Tat lebt dessen Gestik hier wieder auf, führt sie organisch weiter, ganz frisch, ist Theater von heute. – Ich sollte nun Momente der Aufführung und dann noch dies und das konkreter beschreiben, das täte ich so gern. Aber, ich will nicht, nicht zuviel, denn Neugier soll bleiben, sich selber auf die Entdeckungen des Abends einzulassen, mit „ungefärbtem Gemüte“ die Vorgänge zu verfolgen. Ja, ein Bibelzitat kommt auch drin vor – ganz großes Schicksalslied das, verwebt in Kafka, den Faden wieder aufgenommen, bis auf den Tag jetzt: hier, heute, sehr hart.
Die Inszenierung ist besser, viel, viel besser als ihre Ankündigung. Die denkerische Eigendynamik des Entwickelns und Spielens ließ das, o ja, „postutopische“ Konzept des ach so „ideologiefreien“ Menschelns in Zeiten der Cholera, äh, des Neoliberalismus weit hinter sich (Wie kommt man da durch und bleibt doch “anständig“, wie machen? Postulierte das nicht einst Himmler in seiner Geheimrede?).

Shakespeare hilf! Nein, das Spiel bleibt nicht im fatalistischen Morast kleinbürgerlicher Kafka-Alps stecken… Ania Michaelis hat vielmehr mit staunenswerter Konzentration mit dieser Kollektivarbeit einen Bogen geschlagen, immer wieder die Ichs in ihren hadernden Verstrickungen transparent werden zu lassen für den Gang der Geschichte (nicht die des Stücks, sondern die so etwa letzter tausende Jahre): dieses miteinander was machen wollen, aber nicht verständigen können, dies sich lieben, aber nicht lieben können, dies was glauben, aber was andres sein: verzweifelte Kraft der Hoffnung, des Kämpfens in der Welt.

Selbst wenn alles das, was es da zu sehen und zu hören und zu merken gibt, nur halb so wunderbar, nur halb so bis ins Feinste genau und durchdacht und wissend und atemberaubend gut gespielt worden wäre, es hätte mein Herz gewonnen und mich fasziniert: aber so gar! Nein, dieses Theatererlebnis wird weder durch allzu lieb Bemühtes (wie bei geringeren Könnern) gedämpft, noch trübt das Kunstereignis ein „Ich spiele Theater, guckt, wie“ (der berühmteren Könner). Wie als Kind sitzt man und ist verzaubert, putzmunter verträumt, achtsam wie ein Pirat. Aber doch ist der Sinn und das Vergnügen eben nur für den Erwachsenen zu gewinnen, von dieser Sorte Zeitgenossen die vielleicht schon etwas Reiferen, und so tut sich ein Kreis auf, der Kindsein und Altsein umfasst, schön, weil verdichtet aus Eigenem.

Warum bloß müssen immer alle Lieder englisch Gesungene sein, es erschloss sich mir (bis auf eines, und das dann nur allzu sehr) kein Grund, es war das Banalste vom Ganzen, es soll andre Sprachen der Lieder geben, es heißt, so unendlich viele und wie schön hätte da Russisch geklungen, Peruanisch, Arabisch oder Griechisch…

Sie spielen erstklassig. Man wüsste nicht, wen mehr, wen geringer loben und erinnern: von Anfang an ein wahres Traumensemble, so präzise die Brüche, so geschichtenreich die Schattierungen, so überraschend die Pointen, so lebensvoll die Figurationen, so rätselhaft. (Einmal dachte ich: so wäre ein kleines Stück gewesen, wenn Pina Bausch es auf der Probebühne des Deutschen Theaters der DDR gemacht hätte). Alle sind sie gut, sehr gut! Welche Kraft, welche Blicke, welche Münder, und selbst die Wimpern spielen perfekt! Es wäre ungerecht, sie aus Gerechtigkeit nicht zu nennen, und so zelebriere ich ihre Namen, mit je einer Rose für jeden: für Matthias Bernhold, für Cindy Ehrlichmann, für Iduna Hegen, für Günther Lindner, für Uta Lindner, für Michaela Millar, für Minouche Petrusch…. Sie gewinnen aus den minimalistischsten Elementen ihrem Spiel Farben, Witz, Bewegungen, die in den Bann der Erzählungen saugen: eine geht in die andre, wie im Traum, übergangslos, über, aus einem Etwas machen sie Alles! Es fängt wie ein Märchen an, eine Legende… Der „Chorgesang“ des grandiosen Anfang-Tableaus allein ist ein Theater für sich, das schier abendfüllend wirkt, und so amüsant anzusehen, wie bitter zu verkraften, eine Lektion in Geschichtsphilosophie, die es in sich hat: Wird diese Metapher im weiteren Verlauf denunziert werden? Soll sie ersticken im Persönlichen, Menschlich-Allzumenschlichen? Würde es sich in Detailverlorenheit aufdröseln, immer privater? O nein.

Das wird mythisch und komisch – ich habe viel gelacht – und es ist voller Poesie, Satire, Aktualität, Weisheit, Absurdität, Schärfe und entsetzlicher Tragik: aber diese völlige Desillusionierung ohne Trost und Gnade, schenkt doch - es ist einfach so - : die Liebe zu den Menschen, eine Art grausame Zärtlichkeit. Sie leben. Sie kämpfen - und das vor allem: immer weiter. Der Schluss ist einfach großartig.

Nein, die Utopien sind nie vorbei. Wer das mitzuverbreiten hilft, in wessen Interesse agiert denn der? Die großen Zukunftsvisionen von Sozialismus und Kommunismus (auch wenn es im Stück so weder gesagt, noch vielleicht gemeint ist, aber es ist da und das völlig klar), sind ja überhaupt nicht „post“. Das hätten die Wenigen so gerne, diese Perspektive des Weges den Vielen auch noch zu rauben und als „Illusion“ zu fälschen. Freilich, der politische Bewusstseinsverlust ist enorm, und die Klasse der Macht zieht Honig aus der Resignation der Spießer, fördert die Verzweiflung der Individualisten. Momentan ist das bei den Massen fast gelungen. Ja, der Weg ist mühsam, sehr anstrengend, da sinkt einem auf die Dauer der Arm mit der Fahne, da erstickt schon mal der Kampfruf in der Tröte. Und Geld, um die Fahne wieder rot zu färben, ist auch nicht da, Ration gekürzt. Aber wegen einer Scheidung, wegen Prügel meinetwegen, ach, wegen Hass und Mord, da geht doch die Liebe deswegen nicht aus der Welt. Das schaffen nicht mal die Neonazis. An sie, die Liebe, wird weiterhin geglaubt, ach ja, und an die Revolution, folglich, auch, denn beide sind so fest ineinander verschlungen, mein Herz schlägt für Dich. Der Tanz, auch wenn der Unterricht so enervierend ist, geht weiter, von neuem, immer wieder: deshalb schlägt mein Herz, mein Herz schlägt für Dich, heißt es.

Dankbar für diese eineinhalb Stunden reich verbrachter Lebenszeit, verließ ich das Theaterchen, und froh, dass es so was (noch?) gibt – mitten im Herz der Finsternis, der geizig fressenden, die um sich greift, alles verzehrend in immer dunklerer Zeit… Doch nicht zu löschen ist das Licht der Hoffnungen, der Utopien und des Willens, unbeirrt um den Weg zu kämpfen, der aus dem Morast führt hin zu einem zumindest besseren und zwar gemeinsamen Leben: für Alle. Die Fahnen mögen verblassen, das Blut vergossen sein, „der Traum von einer Sache“ ist noch lange nicht ausgeträumt. Es war nie der Traum vom Paradies, es ist die zwingende Not, die Welt anders einrichten zu müssen, gegen die HERRschende Barbarei und bei Strafe des Untergangs. Unsereins hat diese Sehnsucht und dieses Wissen noch in der Schule gelernt. Für Alle. Dafür, schlägt auch mein Herz.



Wachträume - ein Panoptikum von und mit dem Theater o.N. | Foto (C) David Beecroft

Olaf Brühl - 19. September 2015
ID 8880
WACHTRÄUME - EIN PANOPTIKUM (Theater o.N., 17.09.2015)
Regie: Ania Michaelis
Musik: Matthias Bernhold
Bühne & Kostüme: Martina Schulle
Video: Christiane Hommelsheim
Choreografie: Angela Roczkov
Dramaturgie: Dagmar Domrös
Licht: Klaus Dust
Technik: Markus Bünjer
Produktionsleitung: Doreen Markert
Mit: Matthias Bernhold, Cindy Ehrlichmann, Iduna Hegen, Günther Lindner, Uta Lindner, Michaela Millar und Minouche Petrusch
Uraufführung war am 17. September 2015
Weitere Termine: 19., 20. + 23. 9. / 8. - 10. 10. / 12. - 14. 11. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-on.com


Post an Olaf Brühl

http://www.olafbruehl.de



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