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Premierenkritik

Großes Solo

für Jürgen Holtz



Jürgen Holtz als Caribaldi in Thomas Bernhards Die Macht der Gewohnheit am Berliner Ensemble - Foto (C) Monika Rittershaus

Bewertung:    



Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Diese Fragen durchziehen gleichsam das gesamte Leben und Werk des Schriftstellers und Dramatikers Thomas Bernhard. Naturgemäß ist es von beiden etwas. Der Witz, der aus der Tragik des Lebens entsteht. Die Lächerlichkeit der Existenz an sich. Die Kraft seiner Worte zieht der Österreicher Bernhard zeitlebens aus der großen Hass-Liebe zu seinem Heimatland, zum Theater und zur Kunst im Allgemeinen. Einen großen Teil des Erfolgs seiner Stücke verdankt Thomas Bernhard aber auch dem Regisseur Claus Peymann, der ab 1972 einen Großteil seiner Stücke zur Uraufführung brachte. Besonders eines aber fehlte dem amtierenden BE-Intendanten noch. Nach dem Notlicht-Skandal bei der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige bei den Salzburger Festspielen 1972 war Peymann zwei Jahre später zu Uraufführung von Bernhards Komödie Die Macht der Gewohnheit in Salzburg unerwünscht. Es übernahm Dieter Dorn, der mit Bernhard Minetti in der Hauptrolle des Zirkusdirektors Caribaldi einen denkwürdigen Erfolg feierte. Das Stück tourte danach im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Zirkusattraktion durch ganz Deutschland.

Vierzig Jahre danach und zwei Jahre vor seinem geplanten Abgang als Intendant des BE holt Claus Peymann nun sein Versäumnis nach. Und es ist wieder die Geschichte zweier Männer. War es für Thomas Bernhard nur sein hoch verehrter und geliebter Schauspieler Bernhard Minetti, der „ihn spielen“ konnte, so ist es nun für Regisseur Claus Peymann der langjährige BE-Schauspieler Jürgen Holtz, der in der Rolle des Caribaldi zu den großen Bernhard-Mimen Bernhard Minetti, Traugott Buhre und Gert Voss aufschließt. Man möchte sich fast keinen anderen vorstellen als den 82jährigen Holtz, der - so scheint es - sein ganzen Leben auf diese Rolle gewartet und nun nochmal die gebündelten Erfahrungen seines Schauspielerlebens hineingetan hat. Sein Caribaldi ist zu einem für ihn wie für Claus Peymann [doppel-]weisen Alterswerk geworden. Es muss also nicht immer der Lear sein.

Auf dem Vorhang des Berliner Ensemble prangen die Worte: „Ein Dummkopf / der heute noch einem Künstler glaubt / ein Dummkopf“. Es ist die altersweise Wahrheit des Zirkusdirektors, der immer ein großer Künstler sein wollte und doch weiß, dass er dieses hoch gesteckte Ziel nie erreichen wird. Exemplarisch hat ihn Autor Thomas Bernhard dazu verdonnert, auf einem Stuhl zu sitzen und wie Sisyphos, der den Stein immer wieder den Berg hoch rollt, tagtäglich Franz Schuberts Forellenquintett zu üben. Einmal nur will er es fehlerlos durchspielen. Alles setzt er auf die morgige Vorstellung in Augsburg. Wie ein Schlachtruf klingt es immer wieder: „Morgen Augsburg“. Aber es will nicht gelingen. Denn scheinbar alles hat sich gegen Caribaldi verschworen. Zum Quintett gehören nämlich dummer Weise noch vier Mitspieler. Ein Jongleur (Norbert Stöß), der lieber zum Zirkus Sarasani will, als die Violine zu spielen, Caribaldis Enkelin (Karla Sengteller), die mit ihrer Viola crescendo und decrescendo nicht auseinanderhalten kann, ein grobschlächtige Dompteur und Neffe Caribaldis (Joachim Nimtz) am Klavier, der durch seinen Suff jede Probe platzen lässt und der Spaßmacher (Peter Luppa) am Bass, dem ständig die Haube vom Kopf fällt.

Konzentration, Präzision, Perfektion und Vollkommenheit sind die Schlagworte, die Caribaldi im Takt des schwingenden Cellobogens den ihm ausgelieferten Mitspielern einbläut. Holtz knarzt mit Stimme und Bogen, streicht über die Cellosaiten wie über sein Holzbein oder den Körper des Jongleurs. Die Enkelin hampelt auf Befehl und macht Verbeugungen wie eine Puppe. Der Spaßmacher kuscht und springt wie ein Hund nach den Wurststücken des Dompteurs - wie zuvor der Jongleur nach dem Kolophonium Caribaldis. Eine zirkusreife Dressurnummer, die zum Leidwesen des Zirkusdirektors aber zum großen Vergnügen des Publikums, nach dessen Gestank Caribaldi in Bernhards Stück den Ort des Auftritts herausriechen kann, ihre Wirkung verfehlt. In einer Welt der Intoleranz macht Übung nicht den Meister, sondern führt drei Akte lang zum gemeinschaftlichen Wahnsinn. Der Weg an endlosen Strommasten und noch einem Augsburg vorbei führt ins Chaos, das sich schließlich das schräge Terrain, das Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann ins BE gestellt hat, wieder zurück erobert.

Es ist nicht allein die Vergeblichkeit der Kunst - „Wir hassen das Forellenquintett, aber es muss gespielt werden.“ - es ist die ganze Sinnlosigkeit des Lebens selbst: „Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden.” Eine großes Arie des Scheiterns und ein Solo für den Schauspieler Jürgen Holtz, dem das hier über zwei ganze Stunden lang gelingt, und der nicht müde wird (eine Pause hat ihm Regisseur Peymann gegönnt), den Weltekel Caribaldis nicht nur wie in seiner legendären Fernsehrolle trocken raus zu motzen, sondern virtuos zu zelebrieren. Einziger Nachteil dieser Inszenierung, die Claus Peymann gewohnt werkgetreu vom Blatt spielen lässt, ist die Tatsache, dass der Regisseur den Text Bernhards wort-wörtlich nimmt und somit die Mitspieler Caribaldis fast zu lebenden Requisiten degradiert. Der tiefere philosophische Sinn von Bernhards Stück erschöpft sich hier in der Sinnlosigkeit des alltäglichen Tuns. Ist Dieter Dorn der Magier des konservativen Regietheaters, so ist Claus Peymann sein detailverliebter Handwerker, der es sogar mal kräftig blitzen und donnern lässt. Dennoch ist das Ganze durchaus sehenswert. Respekt für Peymann und sein etwas angestaubtes BE. Großer Beifall und Bravorufe aber für Jürgen Holtz.



Die Macht der Gewohnheit am Berliner Ensemble - Foto (C) Monika Rittershaus

Stefan Bock - 15. März 2015
ID 8505
DIE MACHT DER GEWOHNHEIT (Berliner Ensemble, 14.03.2015)
Inszenierung: Claus Peymann
Bühne und Kostüme: Karl-Ernst Herrmann
Mitarbeit Kostüme: Wicke Naujoks
Dramaturgie: Jutta Ferbers
Licht: Karl-Ernst Herrmann, Ulrich Eh
Mit: Jürgen Holtz (Caribaldi, Zirkusdirektor), Karla Sengteller (Enkelin), Norbert Stöß (Jongleur), Joachim Nimtz (Dompteur) und Peter Luppa (Spaßmacher)
Premiere war am 14. März 2015
Weitere Termine: 21., 28. 3. / 10., 17., 29. 4. / 23. 5. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-ensemble.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de



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