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Monologfestival | 20. bis 30. Oktober 2016

Umordnung

der Dinge

im Berliner THEATERDISCOUNTER



Unter dem Titel AUS LIEBE ZUR WELT: Die Umordnung der Dinge veranstaltet der Berliner Theaterdiscounter nach vier Jahren wieder ein Monologfestival. 2012 ging es mit Jenseits von Gut und Böse um das alte Reizthema „Moral“. Das war größtenteils natürlich in der monologischen Form des Selbstgesprächs und der Selbstbefragung recht philosophisch und reflexiv angehaucht. Zeigte aber in der Form eines Reenactments der Rede, die der 77fache Mörder und norwegische Terrorist Anders B. Breivik vor dem Osloer Amtsgericht hielt, auch die andere Seite menschlichen Denkens. Breiviks Erklärung, das vieldiskutierte zwiespältig Projekt des Schweizer Theatermachers Milo Rau, wurde damals von der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Ö. Soydan vorgetragen.

* * *

Ähnliches versucht nun auch das Performance-Kollektiv internil, das sich auch Verein zur Untersuchung sozialer  Komposition e.V. nennt. Gemäß dem eigenen Wahlspruch: „Wir spielen nach, was uns vorgemacht wird!“ haben sich die PolitperformerInnen von internil auf Facebook umgesehen und einiges an Selfie-Videos und sogenanntem Hate Entertainment, das sich im wohl größten sozialen Netzwerk so herumtreibt, herausgefischt. Und da scheint wirklich nichts unmöglich. In Aggroprolypse treffen diese in ihre Handys monologisierenden Selbstdarsteller unterschiedlichsten Couleurs auf die vor einem Laptop sitzende Performerin Marina Miller Dessau, die deren Texte aus den Videos in Duktus und Sprachfärbung reenacted, als würde sie sie gerade selbst ins Netz einspielen.

Da sind v.a. rechte Spinner, Islamisten, Verschwörungstheoretiker, selbsternannte Erlöser und schlichte Hassprediger. Währenddessen kann das Publikum per Beamer-Projektion in die FC-Profile der jeweiligen User schauen. Mit einer speziellen Computersoftware wird live die Gesichtsmatrix der Performerin vermessen und schließlich mit den Facebook-Identitäten verschmolzen. Das Ganze schwebt zwischen latentem Unbehagen, Lächerlichkeit und am Ende sogar etwas Trauer über die Einsamkeit dieser Menschen, die mit ihren verqueren Botschaften nach draußen dringen wollen.

*

Den Bekenntnissen selbstermächtigter Soliloquenten mit Sendungsbewusstsein stellte das Festival den dagegen doch recht eloquenten und mit nicht minder Ausstrahlungskraft versehenen Pop-Musiker, Autor und Theatermacher PeterLicht entgegen. Sein mit viel Humor ausgestattetes, gesellschaftskritisches Sendungsbewusstsein spiegelt sich nicht nur in Liedern vom Ende des Kapitalismus, sondern mündet nun auch in einem Lob der Realität, wie Lichts neues Album und gleichnamiges Buch titelt. Aus selbigem las der Autor dann auch am Eröffnungsabend.

Seit PeterLicht 2007 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den 3sat-Preis und den Publikumspreis erhielt, ist er neben den Popcharts auch im deutschen Literaturbetrieb angekommen. Und dafür musste sich Licht wie weiland Rainald Goetz nicht einmal die Stirn aufschlitzen. Nach dem Motto „Hallo, hier bin ich.“ reitet der Autor in einer Art kollektivem Monolog durch den rauschenden Schwarm der individualisierten Gesellschaft. Zwischen Aggro-Goetz und Distelmeyer‘schen Ich-Maschine sendet Licht seine rhythmisierten, poetischen Grußbotschaften an die freie Welt der auserwählten Krisenwesen. Und aus Lichts Text schreit alles: Krise! Aber auf eine heiter-ironische Art, bei der sich die Konsum-Kritik in wohlige Fabeln vom Hosengott hüllt und Krisenkäufer und -verkäufer um die teure Krisen-Kiste der Pandora feilschen.

Doch PeterLicht will auch loben und das Ende der Krise willkommen heißen. Vom Lob der Realität zum Lob des Grußes. Seine kleine Anekdoten führen vom Superdefizit zum Lob der Akkumulation der Leerstelle und dem Mantra vom Zinswunder. Ein endlos schönes Poem aus „Rollrasenflocken“. Der „König allen Klangs“ und „Jäger vom Orden der schönen Gestalt“ sprach‘s und verschwand. Das „Sausen der Welt“ im „Klang der Krise“ bleibt als Dauerton und „blühender Tinnitus“ im Ohr.



Das ist PeterLicht. | (C) Christian Knieps


*

Den wissenschaftlich-philosophischen Überbau zum Genre Monolog sowie dem vielstimmigen Verschwörungsgeraune im World-Wide-Web und an den lokalen Volksstammtischen, die mittlerweile ihre runde Form verlassend bis in den öffentlichen Raum vieler deutscher Städte ragen, lieferte am Sonntag der Gegenwartsphilosoph und freie Publizist Guillaume Paoli. Und das Aus aktuellem Anlass, wie er seinen Vortrag über die zunehmende soziale Paranoia nennt. Ein zugegebenermaßen recht trockenes Terrain, das Paoli im begrenzten Gedankenraum des kleinen Theaterdiscounters mit großen Schritten durchmaß. Auch ein flux hinzubestelltes Glas Wasser konnte da nicht wirklich helfen. Bekannt geworden ist Paoli Theaterkennern und -interessierten u.a. durch seine Tätigkeit als Hausphilosoph am Leipziger Centraltheater unter Sebastian Hartmann und jüngst mit einem Gründungsaufruf für eine neue Volksbühnenbewegung gegen den Ausverkauf des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz infolge der Berufung des Kurators Chris Dercon zum neuen Intendanten.

Eher untheatralisch gestaltet sich da der von Paoli selbst „Stereolog“ genannte innere Gedankengang aus Stimme und Klang. Ein laufendes Für und Wider - reflexives Denken zum Anschauen. Der Philosoph bewegt sich dabei vom Orangen- zum Zwiebelprinzip, spricht vom Zeitgeist und Medien-Mainstream, über den Freiheitsbegriff des Westens, die Verteidigung des Way of Life und die Angst der Pegidisten vor dem Fremden. Soziale Paranoia sei höchst ansteckend und die Freund-Feind-Mechanismen des kalten Krieges greifen auch heute noch. Das linksliberale Bürgertum im Erklärungsnotstand. Denn verstehen bedeutet für die konservativen Hardliner bereits entschuldigen.

Die Analysen des grassierenden Hasses durch linke Publizistik oder auch das linke Theater wären nur für ein linkes Publikum, das der gleichen Meinung ist. Als Beispiel nennt Paoli das Buch Gegen den Hass der soeben mit dem Friedenpreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Publizistin Carolin Emcke, deren „präsidiale“ Dankesrede er als „Gauck-Rede in literarischer Form“ bezeichnet. Eine steile These, womit Paoli aber nicht ganz allein dasteht, und die er gleich noch mit der Ablehnung der schon von Frank Castorf in seiner Dankesrede zum Berliner Kunstpreis gegeißelten allgemeinen Konsenskultur würzt. Nicht jedes Hassgefühl könne man einfach so verwerfen.

Der so vor sich hin monologisierende Philosoph, für den ansonsten „deine Freiheit ist die Bedingung meiner Freiheit“ gilt, hat einen depressiven Grundton in der Gesellschaft erkannt. Die sogenannte Molldiktatur der Pop-Musik. Dazu stimmte er am Laptop eine selbst verfasste kleine Elegie in Moll an. Gegen die „Harmonie der Neurasthenie“ helfe nur der Tonartwechsel auf der Dur-Tastatur zur Feier einer kommenden Kultur. Fazit: Rock’n’Roll statt Moll, und das in Dur, mon Amour.



Das ist Guillaume Paoli. | (C) Renate Koßmann


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Sehr erfrischend, wenn auch schweißtreibend und mit gut 100 Minuten sogar durchaus abendfüllend, ist die multiakustische Performance Stephan Stock spielt ULYSSES von cobratheater.cobra. Es beginnt zunächst als reines Hörstück, bei dem das Publikum um acht Lautsprecherboxen sitzend dem Beginn eines ganz normalen Tags im Leben des Schauspielers Stephan Stock beiwohnt. Später kommt der Performancekünstler selbst mit Rucksack auf die Bühne und führt durch seinen Wohn- und Arbeitsort Zürich. Eine ganz persönliche Ulysses nach Motiven von James Joyce, die den Gedankenflow des Künstlers wie in einem reflexiven Selbstgespräch wiedergibt, verbunden mit den Geräuschen der Schweizer Stadt an der Limmat mit ihren ganz speziellen Orten wie einer Synagoge, einer bekannten Gaststätte, der Zentrale von Google, der Börse und dem Theaterhaus Gessnerallee.

Stephan Stock trifft Einwohner von Zürich, die über diese Orte reden. Wir hören seine Theaterkollegen und Mitbewohner, ihre Meinungen über den Performer oder auch die teilweise prekäre Lage Kunstschaffender in der Stadt. Stock performt hier seinen beruflichen Werdegang vom abhängigen Schauspielschüler bis zum selbstbestimmten, politisch denkenden Performer, der seine Biografie und den eigenen Körper im Spiegel von Familie, Freundeskreis und Gesellschaft, von privatem und öffentlichem Leben zum Thema seiner Kunst macht. Ein Selbstgespräch zur Selbsterkenntnis und persönlicher Seelenstriptease vor Publikum, bei dem nichts, selbst der Körpergeruch, zu intim und zu peinlich wäre, als das es nicht erinnert, erzählt und sogar zur Diskussion gestellt werden könnte.



Das ist Stephan Stock. | (C) Johanna Zielinsky


Stefan Bock - 25. Oktober 2016
ID 9637
Noch bis zum 30. Oktober 2016 stehen im Theaterdiscounter weitere Monologe von Größen der freien Szene wie Gintersdorfer/Klaßen, Monster Truck, MS Schrittmacher, She She Pop, Malte Schlösser u.a. auf dem Programm. Und man kann nur hoffen, dass nicht wieder 4 Jahre vergehen müssen bis zu einer weiteren Auflage dieses vielschichtigen Festivals des Selbstgesprächs mit Diskursküchenanschluss.

Weitere Infos siehe auch: http://theaterdiscounter.de/


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

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