Die Theaterfrau
ARIANE MNOUCHKINE
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Ariane Mnouchkine (2007) | Foto (C) iti-worldwide.org / Bildquelle: Wikipedia
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Wer noch nie etwas von ihr gesehen hat, kann sich das Theater der Ariane Mnouchkine nicht vorstellen. Diese Orgien des Visuellen, gespeist aus der antiken und der modernen europäischen, aus der fernöstlichen Tradition, aus dem indischen Kathakali und anderen Formen des Tanztheaters, sind einzigartig, mit nichts zu vergleichen. Wenn man zu Mouchkines Truppe, dem Théâtre du Soleil, in die alte Munitionsfabrik draußen am Rande von Paris anreist, ergreift einen jene Erregung, die nur die Erwartung von Außergewöhnlichem hervorrufen kann.
In die Theatergeschichte eingegangen sind ihr (unvollendeter) dreiteiliger Shakespeare-Zyklus und ihre auf vier Abende aufgeteilten Atriden. Wie Richard II. im Laufschritt die Bühne betrat, wie der Chor der Mägde in den Choephoren über die Spielfläche fegte – das hat sich dem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt. Aber auch die auf mehreren Podien zu theatralischem Leben erweckte Revolution von 1789, der tödliche Absturz des algerischen Gastarbeiters in L’Âge d’or, die auf zwei gegenüberliegende Bühnen verteilte eigene Bearbeitung der Mnouchkine von Klaus Manns Mephisto (lange vor István Szabós Verfilmung), der Tartuffe, der sich frühzeitig mit dem Islamismus auseinandersetzt, dann später die Kollektivarbeiten – L'Indiade, das aufregende Flüchtlingsdrama Le Dernier Caravansérail, Les Naufragés du fol espoir nach Jules Verne, Les Ephémères, zuletzt Une chambre en Inde – und die Stücke von Hélène Cixous sind bleibende Erinnerungen geblieben, und es ist eine Schande, dass nur ein geringer Teil davon filmisch konserviert wurde. Dafür hat die große Regisseurin mit ihrem Molière einen Film gedreht, der innerhalb seines Genres als Muster dienen kann. Und auch der Film Die wunderbare Nacht ist mehr als nur die Fingerübung einer Bühnenkünstlerin.
Zum eindrucksvollsten Erlebnis gestaltet sich in der Pariser Cartoucherie just jenes Element der antiken Tragödie, das dem modernen Theaterverständnis am fernsten scheint: der Chor. Ariane Mnouchkine führt das Theater zu den rituellen Tänzen zurück, aus denen es entstanden ist. Spätestens bei den Atriden wurde deutlich, dass die Bühnen phantasien der Mnouchkine jenen einer Pina Bausch verwandter sind als den intellektuellen Konzeptionen der gefeierten deutschen Starregisseure.
Ariane Mnouchkine steht für eine Kunstauffassung, für die politisches Engagement und ästhetische Durchdringung keinen Widerspruch, sondern eine Einheit bilden. Für die Sozialistin und Feministin musste sich das über die Arbeit hinaus im Leben fortsetzen. Dass sie selbst vor den Vorstellungen Karten abreißt, wie einst Ellen Stewart vom New Yorker La Mama Theatre, ist mehr als eine Geste. Dass sich die französische Tochter eines russischen Vaters und einer englischen Mutter für verfolgte Autoren in Osteuropa ebenso einsetzte wie für Palästinenser, versteht sich von selbst. Was wiegt es da, wenn einige ihrer Protagonisten aus dem Ensemble flohen, weil sie sich überfordert fühlten. Jahrelange Proben, dann das ebenso lange en suite-Spiel einer Inszenierung verlangen von allen Beteiligten tatsächlich das Äußerste. Aber nur so waren die Höchstleistungen zu erreichen, die das Théâtre du Soleil über 55 Jahre hinweg mit schöner Regelmäßigkeit hervorgebracht hat.
Ariane Mnouchkine hat begriffen, dass ästhetische Entscheidungen stets auch politische Entscheidungen sind. Wer etwa die Sprache der Gänge so genau studiert hat wie die Mitglieder ihres Ensembles, wer sie so deutlich erkennen lässt, lehrt uns auch, dass die Haltung eines Menschen (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) zu tun hat mit seiner Stellung in der Gesellschaft. Umgekehrt vergisst Ariane Mnouchkine nie, dass Kunst Kunst ist, ein Artefakt. Ihre politische Dimension lässt sich nicht unmittelbar an jener "Aussage" ablesen, die Kritiker aus jeder Theateraufführung herauszufiltern bemüht sind. Sie ist vielmehr Teil einer grundsätzlichen – nun ja, Haltung. Aufklärung und Transparenz, das sind die zwei Prinzipien, die die Arbeit des Théâtre du Soleil bestimmen. 1964 wurde es als Amateurgruppe aus einem Studententheater heraus gegründet. Nach Inszenierungen von Stücken Gorkijs, Léotards, Wes kers und Shakespeares und der Kollektivkreation Die Clowns zog das Théâtre du Soleil 1970 in die Car toucherie im Bois de Vincennes. Hier erarbeitete das Ensemble die atemberauben den Szenenfolgen 1789 und 1793 und all die Wunderwerke, mit dem es seither seine Freunde beglückt.
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Ariane Mnouchkine wurde gestern, am 1. März, 80. Wir wünschen ihr ein langes Leben und uns weitere Inszenierungen. Ihr seit langem gehegter Traum von einem selbstver fassten Drama über die großen hi storischen Prozesse unseres Jahrhunderts ist immer noch ein Versprechen.
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Thomas Rothschild – 2. März 2019 ID 11256
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