7. Oktober 2006, HAU EINS (Berlin)
WINCH ONLY
von Christoph Marthaler
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So sieht wohl ein geschlagner Vater aus! Graham F. Valentine, aus der Marthalerfamilie, ist so einer in dem jüngsten Fall WINCH ONLY - Foto (C) Dorothea Wimmer
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Ein Familientreffen - - Marthaler's ganz unter sich. Das Elternpaar: Graham & Rosemary. Die Kinder: Marc und Benedix, die beiden Söhne sowie deren Zwillingsschwestern Sasha & Olivia.
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Ort der Handlung ist das elterliche Haus. Mondän gehalten. Altes Mobilar aus gutem Holz. Eine Vitrine voller Nippes. Ein Kaminschacht, der vom Erd- ins Dachgeschoss, mit Brüstung zum Hinuntergucken Richtung Herrenzimmer, reicht. Dahinter eine unbestimmt in unbestimmbar hohe Höhe reichende und wie in einen Kirchturm rauf führende Wendeltreppe; letztere Vermutung mittels einer Endlossteige, die die hallenden und immer halliger dann hallenden Fußtritte Marcs bezeugten, der vom Herrenzimmer in das Dachgeschoss zu gehen sich entschlossen hatte, aber dort nie anzukommen schien... Ein Wohnen nah den Gleisen auch; linksseitig durch ein Oberfenster reinblitzende Lichter während des Vorbeidonnerns von langen, überlangen Zügen. Nachbarschaftlich wiederum dann günstiger gelegen; rechts stößt eine formidable Holz-und-Leder-Tür direkt zum Brüsseler Justizpalast. Von Anna Viebrock ist der Seher Marthaler'scher Spezifilitäten außerordentliche Bühnenbaukünste gewohnt, doch diesmal hat sie sich buchstäblich selber übertroffen; das Gebäude ihrer Ausstattung flieht gänzlich in gespitzte Höhe, und es wirkt sich hier - auch durch die Hochgeflohenheit des insgesamten Zuschauer- und Bühnenareals im altwürdigen Hebbel-Bau - besonders wuchtig aus.
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"Schnauze!" - der allererste Satz, der wie ein Fallbeil auf die Hoch- und Umstehenden trifft, und Graham, das Familienoberhaupt, hat ihn gesprochen. Alle fühlen sich gemeint. Die schöne einerlei'e Stimmung ist mit einem Mal, für kurz zwar nur, im Arsch. (WINCH ONLY heißt das Stück: "nur Wind", gemach-gemach, nur keine Hektik, keinen ungewollten Zug...) Und Benedikt fährt fort, Klavier zu spielen. Seine beiden Schwestern Sasha & Olivia, wie die "Shining"-Mädchen in dem gleichnamigen Kubrick-Thriller, sieht man Händchen haltend auf der Brüstung stehen. Marc, ihr merkwürdiges altes Brüderchen mit dem Mireille-Mathieu-Tick, ist zur Stelle. Rosemary, seine und die Übermutter aller andern Anwesenden, war schon da. Familienbande und Familiensingen... "Spring nicht!", "Sing nicht!" schallt es, nicht nur aus dem Munde Grahams des Familienoberhauptes, hin und wieder.
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Alle blättern nach und nach jetzt ihre Seelen und Geschichtchen auf. Per Monologeinsprengsel. Durch Bewegungsgesten, pantomig fast. Singender Weise und vor allem. Hauptzitate, die zwei Stunden lang hierzu bemüht werden, stammen aus Monteverdis KRÖNUNG DER POPPEA. Auch wird Wagner mit der Schlussszene aus SIEGFRIED resp. dem hierzu von Wagner separat vorkomponiertem Orchestralidyll mit gleichem Namen kräftigst herbemüht. Wie Lieder und Choräle Schuberts, Brahms' und Bachs. Und mehr. Was für'n Ensemble! was für erzkomische Schauspieler!! was für professionell mit ihren jeweiligen Stimmmitteln jonglierende Erzmusiker und Sänger!!!
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Wenn die Leopardin singt, ist wohl kein Halten mehr! Rosemary Hardy steht grandiosest da, während der Rest der Mannschaft aus WINCH ONLY, auch verkehrt herum, verschwindet... - Foto (C) Dorothea Wimmer
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Rosemary Hardy aber ist die Leopardin dieses Abends!!!!! Hat man sowas je erlebt?
Sie kommt ja eineindeutig aus dem großen Opernfach. Wagner, natürlich; nein, was weiß denn ich, weshalb ich ihren Namen bisher nie auf 'nem Besetzungszettel fand. Und nicht genug damit, dass sie im Wagnerfach - neben dem Wesendonck'schen "Treibhaus" persifliert sie, stimmlich-lupenrein ins Oberste getrieben, Brünnhilds Auferweckungskreischen - wie zu Hause scheint, beherrscht sie auch die leise lineare Linie zu Gewährleistungen vorbarockmäßigen Wohllautes. Auch führt sie, wie man nicht bloß optisch nachvollziehen konnte, alle Fäden des verabreichten Gesangs der "Restlichen" quasi in ihre mütterliche Sängerinnenmitte.
Unerhört das Ganze!!!!!!!!!!
Jubel.
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Andre Sokolowski - red / 8. Oktober 2006 ID 00000002716
www.andre-sokolowski.de
Christoph Marthaler, WINCH ONLY
(in deutscher, französischer und englischer Sprache, mit dt. Übertitelung)
Nach Musik von Monteverdi, Schubert, Fauré, J. S. Bach, Wagner, Saint-Saens, Brahms, Massenet, Tschaikowsky, Schubert, Frémaux, The Kinks etc. und Texten von Michaux, Kafka, Maeterlinck sowie den Schauspielern
Es singen und spielen (als Familie):
Marc Bodnar (Marc)
Bendix Dethleffsen (Bendix)
Olivia Grigolli (Olivia)
Rosemary Hardy (Rosemary)
Sasha Rau (Sasha)
Graham F. Valentine (Graham)
Regie: Christoph Marthaler
Bühnenbild: Anna Viebrock, Frieda Schneider
Kostümdesign: Sarah Schittek
Stimmtraining: Rosemary Hardy (!)
Eine Produktion des KunstenFESTIVALdesArts in Koproduktion mit KVS (Brüssel), HAU (Berlin), Théatre National de Chaillot (Paris), Festival de Otono (Madrid), Le duo Dijon, Le Maillon (Straßburg), Grand Théatre de Luxembourg, Fundacao Calouste Gulbenkian - State of the World (Lissabon), Fondazione Teatro Due - Teatro Festival Parma
Berliner Premiere am 4. Oktober 2006 im HAU EINS
Nächste Vorstellungen waren am 6., 7. und 8. Oktober 2006
Weitere Infos siehe auch: http://www.hebbel-am-ufer.de
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