3. Juni 2006, Berlin, HAU 3
O ASSALTO (DER ÜBERFALL)
von Zé Vicente
Gastspiel des Teatro Oficina, Sao Paulo BRASIL EM CENA - THEATER UND PERFORMANCE AUS BRASILIEN vom 30. Mai bis 7. Juni 2006
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Fransergio Araujo (Hugo) weiß, dass er allein mit seiner Schönheit einen \"kapitalen Eindruck\" auf Haraldo Costa Ferrari (Vitor) machen kann. - Foto (C) Teatro Oficina, Sao Paulo
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Fransergios allzu schönes Weinen
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Das erschütterndste und irrlichternste Bild an diesem durch und durch bewegt habenden Abend hatte sich nach O ASSALTO, urplötzlich und ungeplant, ereignet: Denn Fransergio Araujo, der die eine der zwei Rollen dieses Zweipersonenstücks von Zé Vicente darstellte, vermochte nicht an sich zu halten. Ihn ereilte weinkrampfig die allerschönste Größe des herausgelassenen Gefühls, und erst durch vorsichtiges, zartes Trösten seines schauspielernden Partners Haraldo Costa Ferrari kam dann nach und nach "Beruhigung" in ihm auf. Zu stark waren die Anspannungen der zurückliegenden 90 spannenden Minuten allerhöchster Schauspielkunst, zu überwältigend schien ihm der mehr als dankbar auf sie beide einprasselnde Schlussbeifall der Zuschauer zu sein.
Ein Weltereignis, eine exemplarische Paradestory aus der Kältepracht der sogenannten Zivilisation - wo vor sich hin stinkende Slums vor lauter Wolkenkratzerschattendunkel letztlich gar nicht mehr zu sichten sind, wo Arm & Reich aufs Parasymbiotischste in sich vermanschelt ihre unwirklichste Fratze zeigen, wo der König mit den Knechten um die Wette rennt; es könnte sich, man glaubt es kaum, auch hier und um die Ecke zugetragen haben.
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Knecht & König sind sich einig: Vitor (Haraldo Costa Ferrari, von hinten zu sehen) soll als \"falscher\" Hugo in der Bank zurückbleiben - Foto (C) Teatro Oficina, Sao Paulo
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Tatort Bankgebäude. Hugo (33), ein verheirateter Vater von 3 Kindern, jobt als Putzmann. Vitor (25), Single, ist als Angestellter mit der fortlaufenden Nummer 5.923.800 hier beschäftigt. Beider Wege kreuzen sich zu nachtschlafener Zeit. Der eine, Hugo, ist beim Auskehren. Während der andre, Vitor - der zu dieser nachtschlafenen Zeit hier eigenmtlich nichts mehr/noch nichts zu suchen hat -, ihm auflauert. Aus einem ganz bestimmten schnöden Grund; er will mit einem prall gefüllten Geldkoffer auf Nimmerwiedersehen aus der Bank verschwinden, und er tauscht mit ihm nicht nur die Anziehsachen, sondern auch die Rollen, denn sein Plan geht so: Hugo, welcher als Angestellter Vitor das Gebäude fluchtartig verlässt, wird von der alarmierten Polizei als Dieb gestellt, während der eigentliche Dieb (Vitor als Hugo) mit dem Geldkoffer zurückgebleibt, um mit ihm letztendlich und "in Ruhe" durchzubrennen. Alles kommt natürlich völlig anders. Ganz zuletzt vernimmt man donnernde Gewehrsalven; nein, das Massaker konnte keiner von den beiden lebend überstanden haben.
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Nicht nur von seinen Jahren her ein Gleichnis zum Gekreuzigten: Fransergio Araujo als der \"wahre\" Hugo - Foto (C) Teatro Oficina, Sao Paulo
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Aber darum ging es weniger.
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Das Allerspannendste an Text und Inszenierung sind die zwischenmenschlichen Entwicklungen der beiden Männer. Es war beispielsweise klipp und klar, von vornherein, dass Vitor Hugo schon seit langem, schon seit ewig langem aufgelauert haben musste. Eine abartige Komponente spielte da mit rein. Ein Auf-Ihn-Abgerichtet-, ihm Verfallen-Sein. Obgleich nämlich der Knecht dem König schon an Jahren etwas überlegen schien, sollte der "Umkehrschluss" - der nicht allein vom König ausgegangen war - ein Spiel auf gleicher Augenhöhe werden, man begegnete sich justament am urzeitlichsten aller Grenzsteine: der Sexualität. Nicht abwegig, dieses als Sinnenfest für Aug' und Ohren zu bezeichnen, was sich nun und hier zwischen den so genial auf sich und ihre körperlichen Gegenüber eingestellt gewesenen Haraldo-Vitor und Fransergio-Hugo nach und nach vollzieht. Im grauen Dunkel, und indem sie sich dann gegenseitig ihre Sachen von den Leibern reißen, wird der Liebesakt in seiner mannigfaltigsten Gespielsart fast denn tollwütig und überlautstark exhibitioniert ...
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Sehr wahr, sehr mutig, sehr ergreifend.
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Andre Sokolowski - red. / 4. Juni 2006 ID 2434
www.andre-sokolowski.de
BRASIL EM CENA - THEATER UND PERFORMANCE AUS BRASILIEN
vom 30. Mai bis 7. Juni 2006
(Berlin: HAU 1, HAU 2, HAU 3)
COPA DA CULTURA
Fußball, Frohsinn, Samba, Karneval – das sind die gängigen kulturellen Klischees über Brasilien, an die der durchschnittsdeutsche Caipirinhaschlürfer sehnsüchtig denken mag. Fußballkunst, Lebensfreude, Sambaschule und Karnevalisierung sind aber tatsächlich brasilianische Grundbegriffe von weitaus größerer Dimension und Sprengkraft, als europäische Phantasien sich das ausmalen können – weil sie soziale Aktion und künstlerischen Prozess, Populäres und Elitäres, die Masse und den Einzelnen, das Positive und die Krise mit schier unglaublicher Energie vereinen und verschweißen.
Demnach sind die Brasilianer in Europa nicht nur wegen ihrer Favoritenposition bei der bevorstehenden WM gerade groß im Kommen. Auch weil sich nirgends so wie dort zeigt, welche subversiven Abwehrmechanismen und Kulturtechniken Menschen in der alltäglichen Konfrontation mit Armut, Ungleichheit und Gewalt entwickeln können. Brasilien ist Vorreiter, was die reale Umverteilung von unten nach oben angeht und den aus derlei ökonomischem Ungleichgewicht erwachsenden sozialen Zündstoff. Vorreiter aber auch, weil sich dort schon heute zeigt, welche Alternativen, Gegenstrategien und Parallelwelten sich also auch uns im globalisierungsbedrohten, angsterstarrten Europa demnächst bieten könnten.
Einen deutsch-brasilianischen „Copa da Cultura“ gar hat der tropikalisch-brasilianische Kulturminister und MPB-Star Gilberto Gil ausgerufen. Berlin ist Hauptaustragungsort dieser bilateralen Begegnung, und während im Haus der Kulturen der Welt ein brasilianisches Tanz- und Musikprogramm im Rahmen des „In Transit“-Festivals stattfindet, veranstaltet das HAU (das sich mit Move Berlim ja bereits zweimal der Tanzszene des Landes gewidmet hat) ein Festival mit zeitgenössischem Theater und Performances: BRASIL EM CENA, vom 30. Mai bis 7. Juni 2006. Megametropole und Hinterland, Küste und Sertão und die in dieser Paarung wurzelnden Widersprüche und Begegnungen geraten dabei ins Blickfeld der Künstler und Zuschauer in dem zehn Produktionen umfassenden, von Ricardo Muniz Fernandes, Kirsten Hehmeyer und Matthias Pees zusammengestellten Programm.
BRASIL EM CENA findet im Rahmen der „Copa da Cultura“ in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Kulturministerium statt, gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds
präsentiert von radioeins und zitty
3. und 4. Juni 2006, HAU 3
"O ASSALTO (DER ÜBERFALL)" von Zé Vicente
Regie: Marcelo Drummond
Bühne: Marcelo Comparini
Mit: Fransergio Araujo und Haraldo Costa Ferrari
Gastspiel des Teatro Oficina, Sao Paulo
http://www.teatroficina.com.br
Weitere Infos siehe auch: http://www.hebbel-am-ufer.de
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