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61. THEATERTREFFEN

Die Vaterlosen

Münchner Kammerspiele


Bewertung:    



Mit ihrer ersten Inszenierung für die Münchner Kammerspiele hat es die bisher in Hamburg, Berlin und Wien arbeitende Regisseurin Jette Steckel endlich zum THEATERTREFFEN geschafft. Am Thalia Theater Hamburg unter dem scheidenden Intendanten Joachim Lux gehört sie seit langem zum Stammpersonal und konnte dort große Publikumserfolge feiern. Ein Stück von Tschechow war bisher nicht dabei. Und vielleicht liegt es ja auch an der Stückauswahl. Tschechows Stücke und vor allem sein erst im Nachlass entdecktes und meist Platonow betiteltes Jugendwerk, haben eine gewisse Tradition beim tt. Jette Steckel gelingt hier wieder ein großer Ensembleabend, der aber sicher auch in der Besetzung mit dem Schauspieler Joachim Meyerhoff in der Titelrolle seinen Erfolg begründet.

Dem Urmanuskript des Textes fehlte bekanntlich bei seiner Entdeckung das Titelblatt. Jette Steckel hat für ihre Inszenierung nun nicht ganz ohne Grund den in Tschechows Tagebüchern vermerkten Titel Die Vaterlosen gewählt. Bestandteil des Abends ist nämlich auch eine eingebundene Gesprächsreihe namens „DAD MEN TALKING“, in der Ex-Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann zu jeder Aufführung wechselnde Gäste empfängt. Meist ältere Herren, mit denen er locker aus der intellektuell gesetzten Männer-Perspektive über gesellschaftliche Themen und das Theater plaudert. Das entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie und passt auch ganz gut zum Stück, in dem es neben komplizierten Gefühlsdingen und einer verstärkt um sich greifenden Perspektivlosigkeit auch um an- und abwesende Vaterfiguren geht. Im Zentrum steht bei Jette Steckel aber weiterhin der sich in der Midlife-Crisis befindliche Dorfschullehrer Platonow, der Depression und Selbstmitleid mit jeder Menge Zynismus, Menschenverachtung und Alkohol zu kaschieren versucht.

Jette Steckel lässt es zunächst aber recht locker angehen. Vor noch geschlossenem Eisernen Vorhang versuchen Carl Hegmann, Edmund Telgenkämper, Martin Weigel und der Live-Musiker Matthias Jakisic Wiebke PulsWiebke Puls kommt mit einem Bierkasten vorbei und sucht nach Leergut. Sie spielt eigentlich die Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa, deren Gut nach dem Tod des Mannes hoch verschuldet ist und kurz vor der Versteigerung steht. Um Geld geht es auch dem von Edmund Telgenkämper gespielten Gutsbesitzer Glagoljew, der das Gut der Wojnizewa ersteigern will und der Generalin eine Heirat vorschlägt. Nach und nach treffen Gäste zu einem Fest bei der Wojnizewa ein, bis auch Platonow mit seiner Frau Sascha (Edith Saldanha) eintrifft. Meyerhoff und Saldanha drücken sich dabei mit viel Hallo durch eine der vorderen Reihen.

„Ich rieche Menschenfleisch“, ruft der aus einer Art selbstauferlegten Gesellschaftsabstinenz rückkehrende Platonow und wirft sich dann auch gleich ins Zeug, alle und jeden zu beleidigen. Besonders darunter zu leiden haben einige der Frauen, unter ihnen Marja Jefimowna Grekowa (Anna Gesa-Raija Lappe), die von seinem Schwager Nikolaj Iwanowitsch Trilezki (Martin Weigel) verehrt wird. Aber auch den Gutsbesitzer Glagoljew verachtet Platonow für seinen bigotten Moralismus. Er beginnt sofort mit der frisch angetrauten Frau des Stiefsohns der Generalin (Bernardo Arias Porras), Sofja Jegorowna (Katharina Bach) zu flirten, die er von früher kennt. Meyerhoff stattet seinen runtergekommenen Dorf-Don-Juan mit reichlich widerlichem Zynismus aus. Das ihm Sofja und die Generalin verfallen, liegt aber sich auch an der Alternativlosigkeit beim übrigen männlichen Personal.

Die Inszenierung, der eine gekürzte Übersetzung von Ulrike Zemme zu Grunde liegt, konzentriert sich auf die Szenen, in denen es insbesondere um die Kontroversen zwischen den Generationen geht. Einen Vertreter der überkommenen Väter-Generation stellt der von Walter Hess gespielte Schwiegervater von Platonow, Iwan Iwanowitsch Trilezkij, dar. Der Oberst im Ruhestand rennt mit einem Gewehr rum und gibt fragwürdige Lebensweisheiten von sich. Der Abend karikiert aber nicht nur die Alten, sondern zeigt auch relativ klar die Perspektivlosigkeit der Jugend in dem antriebslosen Wojnizew, der sich von seiner Stiefmutter aushalten lässt, oder dem Studenten Glagoljew (Abel Haffner), der sich zwar über Platonow lustig macht, aber selbst am Geldhahn seines Vaters hängt.

Nach dem Öffnen des Eisernen Vorhangs zeigt sich ein Wald aus biegsamen Glasfiberstangen (Bühne: Florian Lösche), durch den sich die DarstellerInnen immer wieder zur Rampe schlängeln müssen. In einer Nische sitzt der Live-Musiker Matthias Jakisic, der den Abend atmosphärisch sehr schön auf der elektronischen Geige begleitet. Neben ihm dreht die Bühne immer mal wieder Carl Hegemann und seinen Gast, den Ethnologen Prof. Dr. Thomas Hauschild, an die Rampe. Sehr viel haben die beiden alten Herren allerdings nicht zum Geschehen beizutragen. Die paar Satzbrocken über die Fähigkeit des Menschen zur Innen- und Außenwahrnehmung, das Werfen als eine speziell menschliche Eigenschaft oder die Auslagerung der Gewalt ins Spiel, wie etwa hier auf der Bühne, machen schon Lust auf mehr, werden aber immer wieder von den SpielerInnen unterbrochen und besonders von Platonow verlacht. In Gänze kann man das Gespräch später auf der Website der Münchner Kammerspiele nachhören.

Diese philosophischen Einsprengsler hat die Inszenierung aber nicht unbedingt nötig, da sie in ihrer Intensität und Auswahl der Szenen selbst genug Stoff und Lust zum Nach- und Weiterdenken bietet. Vor allem das Spiel im Stangenwald entwickelt sich als recht fiebriger und intensiver Schlagabtausch der Figuren, in deren Mittelpunkt nicht nur der sich körperlich aufreibende Platonow steht. Die Regie bietet mit dem Pferdedieb Ossip einen interessanten Gegenpol zu den um sich selbst kreisenden Figuren des Stücks. Thomas Schmauser spielt diesen außerhalb der Gesellschaft Stehenden als mystischen Kauz, einen Beobachter und Kommentator von außen, der sich den existenziellen Problemen der Figuren konsequent entzieht. Platonow bezeichnet ihn einmal als einzigen Menschen.

Nach der späten Pause findet der Abend seinen Schusspunkt in der Aburteilung Platonows durch die Frauen, die sich von dem gefühls- und entscheidungsunfähigen Mann abwenden. Da wirkt der Held relativ einsam und lost im Stangenwald. Anna Gesa-Raija Lappes Marja trägt hier einen Monolog der Dramatikerin Katja Brunner vor, in dem es um Täter-Opfer-Umkehr geht. Im Original zieht sie eigentlich ihre Anzeige wegen Beleidigung zurück. Hier wird es wohl zum Prozess kommen. Meyerhoff stellt sich mit durch die Kleidung gesteckten Stangen wie ein von Lanzen oder Pfeilen durchbohrter Märtyrer dar. Vor dem finalen Schuss macht sich noch Katharina Bach mit einem Rocksong Luft. Schauspielerisch hat der Abend einiges zu bieten, als Analyse der Gegenwart und Zukunft stellt er der Menschheit allerdings keinen allzu guten Befund aus.



Die Vaterlosen an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Armin Smailovic

Stefan Bock - 13. Mai 2024
ID 14746
Die Vaterlosen (Haus der Berliner Festspiele, 11.05.2024)
Regie: Jette Steckel
Bühne: Florian Lösche
Kostüm: Pauline Hüners
Live-Musik (Komposition): Matthias Jakisic
Musik (Komposition): Anna Bauer
Video: Jens Baßfeld, Jake Witlen
Lichtdesign: Maximilian Kraußmüller
Dramaturgie: Emilia Heinrich, Tobias Schuster
Besetzung:
Anna Petrowna Wojnizewa ... Wiebke Puls
Sergej Pawlowitsch Wojnizew ... Bernardo Arias Porras
Sofja Jegorowna ... Katharina Bach
Porfirij Semjonowitsch Glagoljew ... Edmund Telgenkämper
Kirill Porfirjewitsch Glagoljew ... Abel Haffner
Marja Jefimowna Grekowa ... Anna Gesa-Raija Lappe
Iwan Iwanowitsch Trilezkij ... Walter Hess
Nikolaj Iwanowitsch Trilezki ... Martin Weigel
Michail Wassiljewitsch Platonow ... Joachim Meyerhoff
Alexandra Iwanowna (Sascha) ... Edith Saldanha
Ossip ... Thomas Schmauser
Carl ... Carl Hegemann
Premiere an den Münchner Kammerspielen: 3. Juni 2023
Gastspiel zum Berliner THEATERTREFFEN


Weitere Infos siehe auch: https://www.muenchner-kammerspiele.de


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