Die Stützen der Gesellschaft
Am Potsdamer Hans Otto Theater packt Sascha Hawemann gleich mehrere gesellschaftliche Probleme in einen rockigen Ibsen-Abend
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Bewertung:
Der gute alte norwegische Dramatiker Henrik Ibsen wird immer wieder gern für das heutige Theater herangezogen, wenn es um die Abgründe der bürgerlichen Gesellschaft geht. Mit Nora oder Hedda Gabler lassen sich die Stellung der Frau und ihre Selbstverwirklichung in der modernen Gesellschaft überprüfen. Der Volksfeind eignet sich zur Betrachtung von Umwelt und Demokratie, und mit Peer Gynt werden Selbstdarsteller und Lügner entlarvt. Dass man einige von Ibsens Stück-Themen auch gut in eine Inszenierung packen kann, zeigt nun Regisseur Sascha Hawemann am Hans Otto Theater Potsdam. Der Abend heißt aber Die Stützen der Gesellschaft, ein nicht so häufig gespielter Ibsen.
In diesem frühen Schauspiel des Norwegers wird sogar mal wieder die fast vollständig von den Bühnen verschwundene soziale Frage gestellt. Obwohl es hauptsächlich doch um die Aufdeckung von Lebenslügen geht. Auch das ein wiederkehrendes Thema bei Ibsen. Der Konsul Karsten Bernick ist als Werfbesitzer eine jener titelgebenden Stützen der Gesellschaft. Einerseits sorgt er für den wirtschaftlichen Aufschwung der kleinen norwegischen Küstenstadt, andererseits betreibt er spekulative Geschäfte, indem er heimlich das Land entlang einer geplanten Eisenbahnstrecke aufkauft.
Dazu kommt ein dunkler Fleck in der Vergangenheit des Konsuls, der einst eine kurze heimliche Liaison mit einer Schauspielerin hatte. Daraus ist das Kind Dina entstanden, das im Hause Bernick aufgenommen wurde. Die Schuld übernahm aber Johan Tönnesen, ein Freund Bernicks und Bruder dessen Frau Betty, der deswegen nach Amerika ging, was den guten Ruf des Konsuls rettete. Betty hat Bernick nur wegen des Geldes geheiratet, da seine Firma vor dem Bankrott stand. Dafür hat er die Liebe zu Bettys Halbschwester Lona Hessel verraten. Lona ging ebenfalls nach Amerika, so dass Bernick unbehelligt zum Wohltäter und angesehen Bürger der Stadt aufsteigen konnte.
Nachdem Lona und Johan nach Jahren unerwartet aus Amerika zurückkehren, droht alles nach und nach aufzufliegen, so dass Bernick auch noch ein Mordkomplott gegen Johan plant, indem er seinen Schiffsbaumeister Aune nötigt, das Schiff, mit dem Johan kurzzeitig nach Amerika zurückkehren will, nur notdürftig zu reparieren, so dass es nicht seetüchtig ist. Zu diesem Krimiplot kommt wie schon erwähnt noch die soziale Komponente, die Bernick als skrupellosen Geschäftemacher auf dem Rücken seiner Arbeiter zeigt. Seinem die Arbeiter aufwiegelnden Schiffsbaumeister droht er mit Rauswurf.
Das alles ist Regisseur Hawemann noch nicht genug. Während im Video Arbeiter aufmarschieren und Aune (René Schwittay) von Zeitarbeitern und Maschinen spricht, die die Menschen fressen, geben Lehrer Roehrlund (Jon-Kaare Koppe) und Betty Bernick (Katja Zinsmeister) in roten Locken und Puppenkleidchen eine Laienspiel-Nora, was wie eine kleine Hommage an Herbert Fritschs 2011 zum THEATERTREFFEN eingeladene Oberhausener Nora-Inszenierung wirkt. Betty hat das Vorzeigeanhängsel des Konsuls (Guido Lambrecht) nicht viel zu sagen, was Hawemann später nochmal für eine spaßige Kritik am Regisseurs-Theater nutzt, als Bernick seiner Frau als Hedda Gabler Regieanweisungen vom weißen Designer-Sofa aus gibt. Dass sich Betty bei Ibsen später gegen ihren Mann emanzipiert und das Schlimmste verhindert, ist hier nicht wirklich vorgesehen. Viel Gekreische gegen Mann Karsten und Eifersüchteleien gegen die heimgekehrte Konkurrenz Lona, hektisches Herumgerenne und moderne Kraftausdrücke lassen einen wähnen, man befände sich in der Volksbühne der 90er Jahre.
Dazu passt auch, die Amerikarückkehrer Johan (Günther Harder) und Lona (Nadin Nollau) wie Wiedergänger von Kurt Cobain und der jungen Patti Smith aussehen zu lassen. Da wird dann auch immer wieder zur Gitarre gegriffen und Smells Like Teen Spirit oder Gloria gesungen. Statt Steve Binetti wie einst bei Frank Castorf besorgt das in Potsdam das Ensemble höchst selbst. Auch Bernick-Sohn Olaf (Paul Sies) ist hier ein verkappter Rocker, allerdings der rechten Seite. Er kommt nicht nur mit dem Spielzeuggewehr, sondern schleppt auch mal Odins Schwert und Hammer über die Bühne, hetzt gegen Ausländer und fantasiert sich ins endzeitliche nordische Ragnarök, wenn ihm nicht gerade Mutti Betty die Nase putzt. Die einzige, die auf den neuen Wind (mal auslüften) und Sound aus Amerika abfährt ist Dina (Charlott Lehmann), was wieder Probleme mit Verehrer Roehrlund bringt. Als Quasi-Greta hat Hawemann ihr noch einen Monolog als Anklägerin der Verschmutzung der Meere geschrieben. Während sie über verölte Vögel spricht, schmiert ihr Olaf das Kleid schwarz an.
Nebenbei muss natürlich auch noch die Handlung vorangetrieben werden, droht die Aufdeckung aller Schandtaten Bernicks und die Stütze der Gesellschaft zu fallen. Als Stütze der Stütze hat auch noch Prokurist Krap (Joachim Berger) seinen Erkenntnismonolog. Das ist selbst für einen fast 3stündigen Abend etwas viel. Trotzdem hält halbwegs die Spannung bis zum bitteren Untergang des Schiffs Indian Star, das Johan nach Amerika bringen soll. Das Ende des Stücks hat Hawemann abgeändert und gibt seinem Bernick einen Ich-bereue-nichts-Rechtfertigungsmonolog gegen die Menschen ohne Visionen, die nicht das Recht haben, ihn moralisch zu verurteilen. Kein Neubau ohne Abriss. Das kommt einem dann doch irgendwie bekannt vor. Fragt sich nur, wer die sogenannten Stützen oder „Grundpfeiler der Gesellschaft“, wie es Roehrlund in seiner Lobrede auf Bernick sagt, heute sind. Aber die „Spitze der Pyramide“ wie Bernick sich nennt, braucht immer auch einen starken Unterbau.
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Ibsens Stützen der Gesellschaft am HOT Potsdam | Foto © Thomas M. Jauk
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Stefan Bock - 22. November 2021 ID 13313
DIE STÜTZEN DER GESELLSCHAFT (Hans Otto Theater Potsdam, 20.11.2021)
Regie: Sascha Hawemann
Bühne: Alexander Wolf und Sascha Hawemann
Kostüme: Ines Burisch
Dramaturgie: Christopher Hanf
Mit: Guido Lambrecht, Katja Zinsmeister, Charlott Lehmann, Günther Harder, Nadine Nollau, René Schwittay, Jon-Kaare Koppe und Joachim Berger sowie dem Musiker Benjamin Warneke
Premiere war am 19. November 2021.
Weitere Termine: 28.11. / 04., 10., 11., 19.12.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.hansottotheater.de/
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