Die Regelung 
  des Richtigen
 
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 Bekim Latfi in Der Prozess am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer
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 Eine riesige, giftgrüne Hand schwebt über der Bühne. Auf einem Videoscreen, der die Bühne einnimmt, sieht das Publikum unpersönliche Flure und stilisierte Büro-Räumlichkeiten. Senkrecht von der Decke wird ein Hinterkopf gezeigt. Die Vogelperspektive wechselt zum frontalen Kamerabild, sogleich wird eine morgendliche Aufwach-Situation schräg von der Seite gefilmt. In kurzen Szenen sehen wir, wie Josef K. (Bekim Latifi) am Morgen seines 30. Geburtstages eines Verbrechens beschuldigt wird, das nicht benannt wird. Zunächst heißt es, er dürfe trotzdem seinem Alltag nachgehen. Sogleich sehen wir ihn als introvertierten Bankangestellten und Prokuristen in einem leblos grauen Bürogeschehen. Kamerafrau Susanne Steinmassl überblendet filmisch und verzerrt perspektivisch. Wir sehen, wie Josef K. nun doch abgeführt wird. 
 
 Nach etwa zwanzig Minuten fährt der Monitor zur Seite und ein sechsköpfiges Ensemble (Namen s.u.) in roten Hosen und knallroten, eng anliegenden T-Shirts bewegen sich auf der Bühne - sechs K.s, mit seitlich gekämmten, glänzend gegelten Haaren. Regisseurin Pınar Karabulut entindividualisiert Josef K., indem sie seine Rolle auf mehrere Akteure verteilt und es kaum eine feste Rollenzuteilung gibt. Alle erscheinen wenigstens kurzzeitig als Josef K., wobei die beiden Schauspieler in der Rolle dominieren und die Schauspielerinnen später auch andere Figuren verkörpern. 
 
 Der Roman Der Prozess wurde erst 1925, ein Jahr nach Franz Kafkas Tod, veröffentlicht. Kafka hinterließ  teilweise unvollendete Textpassagen, die erst von seinem Nachlassverwalter Max Brod in eine Reihenfolge gebracht und als Roman herausgegeben wurden. Karabulut verweist auf den Umstand des Fragmentarischen in angespielten Szenen, die mehrfach abbrechen mit der Bemerkung: „Diese Szene blieb unvollendet.“ Absurd erscheint auch eine manirierte Gestik der Darsteller, die teilweise roboterhafte Bewegungen vorführen. Surreal anmutende Szenerien wie Projektionen eines neongrünen Rasternetzes mit leuchtenden Mustern auf schwarzem Grund (Bühne: Michela Flück) drücken Orientierungslosigkeit aus. Grüne Farbgebungen im Hintergrund kontrastieren dabei effektvoll mit einer komplementären Farbgebung der roten Kostüme von Ausstatterin Teresa Vergho. Die Romanvorlage behandelt eine Überforderungsspirale angesichts eines undurchschaubaren und intransparenten Verwaltungsapparates staatlicher Willkür. 
 
 Die Aufführung beeindruckt mit starken Szenen, wenn Bekim Latifi sich hilflos an zwei Finger der eingangs erwähnten, übergroßen, beweglichen Hand klammert. Flugs wird er langsam und geräuschlos, mit einem Seilzug gesichert, in luftige Höhe gehoben. Über dem Geschehen schwebend, monologisiert er weiterhin, der Gesetzeshand buchstäblich ausgeliefert. Josef K. spricht rast- und haltlos über Funktionsweisen der Justiz und sucht ziellos und diffuse nach Sinn im irritierenden Geschehen. Er spricht in kryptischen Textflächen über menschliche Regelwerke. 
 
 Gesetzliche Regelungen über Schuld und Unschuld erscheinen im Irrgarten der Bürokratie bis zum Ende unklar. Regisseurin Karabulut taucht den Klassiker in starke, poppig-bunte Bilder. Sie stellt Textblöcke Kafkas um, ordnet und montiert neu. Die beklemmende Dynamik des Geschehens wird durch wechselnde, albtraumhafte Szenerien und artifizielle Bewegungen der Figuren ausgedrückt. Anders als etwa in der Adaption der Vorlage vom Tschechischem Nationalballett berührt das Schicksal Josef K.s jedoch kaum, da eine fehlende Individualisierung der Figur wenig Identifikationspotenzial bietet. Es bleibt ein Fremdeln mit menschengemachten Regelwerken und falschen Normen einer Bürokratie atmosphärisch in Erinnerung; zumal 10 Jahre nach Franz Kafkas Tod mit der NS-Diktatur ein Unrechtssystem von bis dahin unvorstellbarer Grausamkeit sein Vernichtungswerk begann, dem auch die drei Schwestern Kafkas zum Opfer fielen.
 
 
 
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 Der Türhüter verwehrt das Tor zur Welt: Lola Klamroth spricht die Türhüter-Parabel in Der Prozess am Schauspiel Köln | Foto © Krafft Angerer
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Ansgar Skoda - 12. Februar 2024 ID 14599
 
DER PROZESS (Depot 1, 04.02.2024)
 Regie: Pınar Karabulut
 Bühne: Michela Flück
 Kostüme: Teresa Vergho
 Musik: Daniel Murena
 Video: Susanne Steinmassl
 Videoassistenz: Amon Ritz
 Licht: Michael Frank
 Dramaturgie: Sarah Lorenz
 Mit: Nicola Gründel, Yvon Jansen, Lola Klamroth, Bekim Latifi, Justus Maier und Sabine Waibel
 Premiere am Schauspiel Köln:  30. November 2023 
 Weitere Termine: 17.02./ 06., 13., 17., 19.03.2024
 
 
 Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel.koeln
          
     
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