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Premierenkritik

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Bilderreigen



Auferstehung am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Tolstois letzter Roman Auferstehung aus dem Jahr 1899 ist schon ein rechter Brocken, der es aber im Gegensatz zu seinem berühmteren und weitaus vielschichtigerem Erstling Krieg und Frieden eher selten auf die Theaterbühne geschafft hat. Zuletzt gab es 2015 eine dreieinhalbstündige Inszenierung von Regisseur Tobias Wellemeyer am Hans Otto Theater in Potsdam. Armin Petras schafft es nun am Deutschen Theater in 3 Stunden und 10 Minuten inklusive Pause. Inhaltlich unterscheiden die beiden Fassungen aber sehr deutlich. Petras hat sie sich für seine coronabedingt mehrfach verschobene Inszenierung auch selbst geschrieben. Wellemeyer verfolgte den Gang des Fürsten Nechljudow vom Lebemann und Gutsbesitzer zum reuigen Sünder und Weltverbesserer in eigener Sache noch recht nachvollziehbar, während Armin Petras die Geschichte in viele einzelne Szenen zersplittern lässt.

Nechludow hatte als junger Mann das 19-jährige Dienstmädchen Jekaterina Maslowa geschwängert. Die Schwangere wurde daraufhin verstoßen und musste als Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdienen. Das Kind starb in einem Findelhaus. Nun trifft Nechludow seine ehemalige Geliebte als Geschworener vor Gericht wieder. Katja wird des Gift-Mordes an einem Freier für schuldig befunden und muss für 4 Jahre zur Zwangsarbeit in ein Straflager nach Sibirien. Nechludow schlägt daraufhin das Gewissen, und er versucht alles, der für ihn Schuldlosen Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Er will sein Land an die Bauern geben, Katja heiraten und ihr nach Sibirien folgen. Der Versuch sein Leben zu ändern, um sich nicht mehr schuldig fühlen zu müssen, endet in der Zuwendung zur Religion, während Katja ein neues Leben mit einer Gruppe aus politischen Gründen Verbannter einer Ehe mit Nechludow vorzieht. Tolstoi stellte hier die Moralfrage auch aus einer eigenen Lebenskrise heraus. Was das für uns heute bedeuten könnte, ist die große Frage einer jeden neuen Bühnenadaption.

*

Am Deutschen Theater beginnt es mit der Gerichtsverhandlung vor dem roten Vorhang. Petras lässt das als Klamotte mit desinteressiertem Staatsanwalt und gelangweilten Geschworenen, einem vom vorabendlichen Gang ins Bordell gezeichneten Richter in Puderperücke und in Lumpen gehülltem russischen Bauernvolk spielen. Auch die Rückblenden auf das Gut, wo sich Nechludow und Katja kennen lernen und er sie in einer Osternacht quasi vergewaltigt werden als lustige Maskerade mit Pappköpfen, -bären, -schnecken und Schlitten gespielt. Die Osterprozession zur Kirche findet als Schattenparade wie in einem Video von William Kentridge zur folkloristischen Live-Musik-Begleitung von Sven Kaiser hinter einem Gazevorhang statt. Das achtköpfige Ensemble schlüpft dabei immer wieder nach schnellen Kostümwechseln in die verschiedenen Romanrollen. Nur Anja Schneider und Felix Goeser behalten ihre Rollen als Katja und Nechludow bei.

Das scheint natürlich auf den ersten Blick etwas albern, ist aber auch ein großes spielerisches Theatervergnügen, wie man es von Armin Petras kennt. Ein wenig nimmt er hier auch Tolstois Pathos auf die Schippe. Der Ernst des Romans zeigt sich aber durchaus auch, wenn etwa Regine Zimmermann mit Handschellen vor dem Vorhang Texte der Sozialrevolutionärin Bogoduchowskaja spricht, oder in Szenen im Gefängnis mit einer Art fahrbarem Gittergestell, aus dem heraus Katja ihre Gespräche mit dem sie retten wollenden Nechludow führt. Dessen Wohnung zeigt eine vergoldete Wand mit stilisierten Sonne. Nechludows Verlobte Missi (Kotbong Yang) tritt als mondäner Vamp auf und zum Besuch bei der reichen Tante (Katrin Wichmann) wird von einem Kellner (Andreas Leupold) ein Tisch gedeckt. So versucht Petras die Standesunterschiede herauszuarbeiten.

Nach der Pause öffnet sich die gesamte Bühne und zeigt ganz in weiß eine Phantasielandschaft mit großem Windrad, einem Floß und dem Tender einer Dampflok. Nechludow rennt als ewiger Reisender mit einem Koffer um die Drehbühne, während das Ensemble Szenen aus dem sibirischen Straflager spielt. Es geht um sozialrevolutionäre Utopien, die Lehren des Darwinismus und den freien Glauben ohne die Institution der orthodoxen Kirche. Katja lebt im Kreis der politischen Gefangenen sichtlich auf. Aber auch das Elend, die Gewalt, der Tod im Straflager und auf der Reise Nechludows dahin werden zu wummerndem Technosound in einem intuitiven Bilderreigen gespielt. Eine Art Fegefeuer vor der Hölle Sibiriens. Und dennoch wird Katja nach ihrer Begnadigung nicht mit Nechludow gehen, sondern beim politischen Gefangenen Simonson (Paul Grill) bleiben. Den Menschen zur Gesellschaft hin erziehen, ist eine der sozialrevolutionären Thesen im vorrevolutionären Russland. Die schreckliche Wahrheit der sowjetischen Gulags schwingt aber auch in Petras Inszenierung mit. Ohne Liebe geht es nicht, ist die andere Aussage dieses nicht immer großen aber spielerisch doch überzeugenden Abends.



Auferstehung am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair

Stefan Bock - 29. März 2022
ID 13548
AUFERSTEHUNG (Deutsches Theater Berlin, 26.03.2022)
Regie: Armin Petras
Bühne: Peta Schickart
Kostüme: Annette Riedel
Musik: Sven Kaiser
Dramaturgie: Bernd Isele
Mit: Anja Schneider, Natali Seelig, Katrin Wichmann, Kotbong Yang, Regine Zimmermann, Felix Goeser, Paul Grill, Andreas Leupold und dem Live-Musiker Sven Kaiser
Premiere war am 26. März 2022.
Weitere Termine: 03., 07., 09., 20.04.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/


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