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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Orwells

dystopischer

Roman mit

Insassen der

JVA Plötzensee



Bewertung:    



Viel Aufruhr in den Kultureinrichtungen der Hauptstadt gab es letztes Jahr, als bekannt wurde, dass der Berliner Senat 10 Prozent der Haushaltsmittel über alle Resorts verteilt einsparen will. Davon betroffen ist auch die Arbeit des aufBruch Gefangenentheaters, dessen Existenz dadurch akut bedroht ist. Die Mischfinanzierung aus Zuwendungen aus dem Justiz- und Kulturresort hat sich nun de facto insgesamt halbiert. Damit ist erstmal nur eine weitere Inszenierung in der JVA Tegel im Juni gesichert. Zwei weitere Produktionen müssten praktisch entfallen. Das Team wird nun verstärkt um Drittmittel und Spenden werben. Viele neue Förderanträge sind da zu schreiben. Es bleibt zu wünschen, dass das Angebot des seit nunmehr 25 Jahren arbeitenden Gefangenentheaters für Berlin erhalten bleibt.

*

Die erste Produktion des Jahres führt in die JVA Plötzensee, wo im Kultursaal der JVA 1984 nach dem bekannten Roman von George Orwell zur Aufführung kommt. Regisseur Peter Atanassow verwendet neben den Texten einer Bühnenfassung und des Romans selbst auch Fremdtexte des US-amerikanischen Autors und Cartoonisten Dr. Seuss (Der Warteort), der US-amerikanischen Autorin Sandra Newan (Wir), Heiner Müllers Text Tokyo-Osaka-Express und eine Kurzgeschichte aus der Textsammlung Kargo von Thomas Brasch. Gespielt wird in einem Bühnenbild (Holger Syrbe) aus drei offenen Räumen mit Türen und einem über zwei seitliche Treppen zu erreichenden Übergangs.

Die sechs Spieler aus der JVA Plötzensee stehen zu Beginn als Gruppe vor dem Publikum und sprechen im Chor von Freiheit, dem Paradies und dem Warten auf die zweite Chance. Freiheit ist auch ein zentrales Thema in Orwells Roman, in dem der „Große Bruder“ über allen Bürgern eines dystopischen Zukunftsstaats wacht. Freiheit wird dort als Sklaverei bezeichnet, es herrschen Denunziation und ein System totaler Kontrolle und Bestrafung. Die Sicherung der Macht um der Macht willen, die Zukunft als Stiefel im Gesicht eines Menschen, wie es O`Brien beim Verhör gegenüber dem Gefangenen Winston äußert. Die erste Folterszene nach der Verhaftung des desillusionierten Zweiflers am System ist schon relativ am Anfang in die Inszenierung eingebaut.

Die düstere Stimmung steuern Videoprojektionen (Pascal Rehnolt) von anonymen Häuserfronten und Massenszenen bei. Zwei Überwachungskameras sind ins Publikum gerichtet. Im Blaumann treten die Mitarbeiter des Ministeriums für Wahrheit zum Essenfassen in der Kantine an. Steven Mädel liefert die Stimme aus dem Überwachungsmonitor beim Frühsport oder dem Verlesen von Kriegsberichten und Hygienevorschriften. Ansonsten spielt er auch Julia, die Winston später den Zettel mit den Worten „Ich liebe dich“ zusteckt. Winston, gespielt von Harun, wird sie später heimlich in dem Zimmer eines Antiquitätenhändlers (Alain Tailor) treffen, wo sie das Buch des angeblichen Staatsfeinds Goldstein lesen. Auch da ist Gegenspieler O`Brien, gespielt von Sadam, am Rande schon immer anwesend. Der Ausbruchsversuch in die Freiheit, das „Goldene Land“, wie es Winston nach einem Traum aus der Vergangenheit nennt, endet im Folterzimmer 101, dem Ort seiner schlimmsten Ängste.

Symbolisch könnte die Situation des Romans auch für die sechs Spieler und Insassen der JVA stehen. Der Entzug der Freiheit als Bewahrung vor der Straftat, heißt es da bei O`Brien. Immer wieder kritzelt Winston seine Gedanken, die er im Roman einem versteckten Tagebuch anvertraut, an die Tür des Zimmers. Am Ende wird hier 2+2=5 stehen. Das Diktum der Partei. Dazu singen alle das bekannte Lied von der Partei, die immer Recht hat von Louis Fürnberg, begleitet von Vsevolod Silkin am Keyboard. Aber auch andere Songs wie „Kann denn Liebe Sünde sein“ oder „Weil ich so sexy bin“ lockern die Inszenierung auf. Sehr beeindruckend singt Alain Tailor „E lucevan le stelle“ aus Puccinis Oper Tosca. Liebe und Kunst als lebenserhaltende Mittel gegen „Neusprech“ und „Doppeldenk“.

Die Inszenierung folgt gut erkennbar dem Roman. Nur am Ende fügt die Regie noch einen Epilog an. Nach einem Text aus Thomas Braschs Kargo spielt das Ensemble eine kurze Szenenfolge, in der eine Pionierleiterin in der DDR glaubt, ihren betrunkenen Vater daheim vor dem Fernseher umgebracht zu haben. Sie wird sich selbst anzeigen und ihre Zweifel am System gestehen. Eine Parallele zum Roman, derer sich sicher noch einige andere auch zu heutigen totalitären, demokratiefeindlichen Bestrebungen ziehen ließen. In jedem Fall ist der Abend ein großer Erfolg auch für das Selbstwertgefühl der Spieler, denen am Ende das Premierenpublikum von draußen lange applaudiert.



Orwells 1984 in der JVA Plötzensee | Foto (C) Thomas Aurin

Stefan Bock - 24. Januar 2025
ID 15116
1984 (JVA Plötzensee, 22.01.2025)
nach George Orwell

Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Haemin Jung
Dramaturgie: Franziska Kuhn
Musikalische Einstudierung: Vsevolod Silkin
Choreographie: Suzann Bolick
Video: Pascal Rehnolt
Produktionsleitung: Sibylle Arndt
Mit: Alain Tailor, Harun, Ilyas, Mike Herrmann, Sadam und Steven Mädel
Premiere war am 22. Januar 2025.
Weitere Termine: 27., 28., 30., 31.01./ 04., 05., 07.02.2025
Eine Produktion von aufBruch KUNST GEFÄNGNIS STADT in Kooperation mit der JVA Plötzensee


Weitere Infos siehe auch: https://www.gefaengnistheater.de/


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