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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Sozial am

Abgrund



Sandrine Zenner als Marie und Birte Schrein als Margret (v.l.n.r.) in Woyzeck am Theater Bonn | Foto © Sandra Then

Bewertung:    



Die Bühne beherbergt übereinander gestapelte Containerbauten in einem sterilen und anonymen Garagenambiente. Die kalten Container lassen sich lösen, verschieben oder austauschen. Live-Videoprojektionen deuten an, dass darin das Innenleben aufs Engste umgrenzt, ungemütlich und zweckdienlich ist. Bald fährt ein Containerdach von oben langsam herunter und birgt am Boden liegend hinter sich eine Öffnung, wie die Zugbrücke zu einer Burg. Das Element fährt jedoch alsbald wieder hoch und schließt sich (Bühnenbild: Janja Valjarerevic). Kein Ausweg scheint in Sicht.

Schon vor Beginn der Aufführung kreist die Titelfigur des Dramas (Paul Michael Stiehler) zwanghaft in enger werdenden Kreisen um diese Bauten. Auch seine laut ausgesprochenen sorgenvollen Gedankengänge wiederholen sich, „immer zu, immer zu“.

Er dient einer Ärztin (Julia Kathinka Philippi) als auf Erbsen-Diät gesetztes Versuchsobjekt. Phillipi erinnert mit schleichenden Bewegungen und im weiten Gewand mit aufgeplusterten Armen an Murnaus Nosferatu-Filmklassiker von 1922 (Kostüme: Vanessa Vadineanu). Die Ärztin braucht nur effektvoll zu schnipsen, damit Woyzeck ihre Regeln befolgt. Der Hauptmann (athletisch: Alois Reinhardt) hingegen pfeift. Auch er macht Woyzeck klein, wenn er ihn in der dritten Person anspricht, ihn einen „guten Menschen“ heißt. Woyzeck versucht ihm bedingungslos zu gehorchen. Der Hauptmann lässt ihn auf seinem Knie Platz nehmen, um ihn im nächsten Moment aufstehend abzuwerfen, oder er hebt – ihm gegenüber ja ein Leichtgewicht – Woyzeck übergriffig einfach hoch auf einen Stuhl.

Andres (Riccardo Ferreira), sein ambitionierter Kamerad beim Wachestehen, kann nichts mit Woyzecks wirren Gedanken anfangen. Marie (Sandrine Zenner), Mutter seines einjährigen Sohnes, ängstigt sich vor ihm, da er an Geister zu glauben scheint und sich verfolgt fühlt. Scherzhaft erklärt sie dem Vater ihres Kindes, man müsse sich mal gegenseitig unter die Schädeldecke gucken. Ihr gefällt es bald, dass ihr der Hauptmann (hier auch in der Rolle vom Tambourmajor bei Büchner) schöne Augen macht. Woyzeck hingegen strauchelt, wird gedemütigt und vorgeführt.

*

Sarah Kurze findet am Theater Bonn schöne Bilder für das frühe soziale und moderne Drama von Georg Büchner, das auf dem realen Kriminalfall des Johann Christian Woyzeck (1780–1824) beruht. Ausweglos scheint die Isolation Woyzecks: Dreimal zeigt die junge Regisseurin in einem Zwischenspiel mit choreographisch sich wiederholender Pantomime ein Bild der sozialen Kälte, Beziehungslosigkeit und Entfremdung: Alle Figuren gehorchen wie mechanisch ihren eigenen routinierten Bewegungen, ohne Woyzeck zu beachten, der rastlos und sorgenvoll um sie kreist und sie ungläubig anstarrt. Sandrine Zenner als Marie geht in diesen Zwischenspielen in die Hocke und macht aufmunternde, neckische Gesten zu einem imaginären Baby hin, dann dreht sie sich aufbäumend links zu Seite und deutet einen ungehemmten Schrei der Wut an, dann macht sie nach rechts hin mit ihren Armen eine wegwerfende Geste. Unaufdringliche Musikeinspieler unterstützen das atmosphärische Geschehen.

Paul Michael Stiehler verkörpert die Titelfigur, einen getriebenen Antihelden, ausdrucksstark. Er geht schlaksig, gebückt, angespannt, reagiert kaum, wenn ihn die Ärztin ohrfeigt, sitzt oder liegt über längere Zeiträume zusammengekauert unbewegt auf dem Boden. Büchners Schulbuch-Klassiker über ein oft gebrochenes Subjekt, das er in seiner psychischen Verfassung als Opfer zeichnet, aber auch als Negation der bürgerlich-konservativ-militaristischen Gesellschaft der Restauration gegenüberstellt, lässt sich unterschiedlich deuten. Sarah Kurze setzt Akzente auf die politischen Aspekte des Dramas. Bei ihr wird Woyzeck insbesondere aus der Armut und Mittellosigkeit heraus zum Opfer und schließlich zum Verbrecher.

Am Ende geht es in der Bonner Inszenierung um die Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums und die Zerstörung der Umwelt und um Veränderungswillen. Flugblätter werden im Publikum verteilt mit der Aufschrift „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, einst Slogan in Büchners Hessischem Landboten. Am Ende tritt Woyzecks Nachbarin Margret (Birte Schrein) an die Rampe, um voller Wut das von Büchner zitierte Märchen von den Sternthalern aus ihrer Sicht schnoddrig wiederzugeben: Ein armes und mutterseelenverlassenes Kind muss erkennen, dass der anvisierte gute Mond in Wahrheit nur ein verfaultes Stück Holz ist.

Der Abend, der den Fokus auf die soziale Spaltung in Büchners Werk legt, lebt von gelungenen darstellerischen Leistungen. Manchmal waren Vorträge von Büchners Originaltext nicht ganz verständlich; zentrale Bilder und Motive wurden jedoch mit neuen Akzentsetzungen wiederholt.



Julia Kathinka Philippi als Ärztin, Paul Michael Stiehler als Woyzeck und Alois Reinhardt als Hauptmann in Woyzeck am Theater Bonn | Foto © Sandra Then

Ansgar Skoda - 11. November 2023
ID 14466
WOYZECK (Schauspielhaus Bad Godesberg, 10.11.2023)
Inszenierung: Sarah Kurze
Musik: Samuel Wiese
Bühne: Janja Valjarević
Kostüme: Vanessa Vadineanu
Dramaturgie: Nadja Groß
Besetzung:
Woyzeck ... Paul Michael Stiehler
Marie ... Sandrine Zenner
Andres ... Riccardo Ferreira
Ärztin ... Julia Kathinka Philippi
Margreth ... Birte Schrein
Hauptmann ... Alois Reinhardt
Premiere am Theater Bonn: 10. November 2023.
Weitere Termine: 16., 19., 24.11./ 02., 07., 08., 21.12.2023// 31.01.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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