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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Zeitenwende

oder

Zeitenende



Recht auf Jugend am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

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Gestalten in uniform weißen Schutzanzügen und Turnschuhen robben, winden und schlängeln sich am Boden. Das kubusartige requisitenleere Bühnenbild wirkt kalt und steril. Bald zeichnen sich dunkle Farbschattierungen an den hellen Wänden ab. Im Stückverlauf tropft dunkle Farbe von der Decke, und die Bühne läuft mehr und mehr mit Farbe voll (Bühne: Valentin Baumeister). Sieben Figurenen skandieren. Sie formieren sich regelmäßig neu und schwingen teils synchron oder wechselnd emphatische Reden. Die vier Frauen (Linda Belinda Podszus, Zoë Ruge, Irma Trommer, Sandrine Zenner) und drei Männer (Markus J. Bachmann, Paul Michael Stiehler, Tim Jakob Wechselmann-Cassim) geben sich als Mitwirkende oder Sympathisanten der Protestgruppe "Letzte Generation" zu erkennen. Das real in Deutschland aktive Aktionsbündnis setzt sich durch zivilen Ungehorsam für Klimagerechtigkeit ein. Die jungen „Aktivisti“ möchten politische Veränderungen durch aufrüttelnde, teils extremistische Eingriffe in den Alltag durchsetzen. Bei Straßenblockaden in Autobahnzufahrten kleben sie ihre Handinnenflächen mit Sekundenkleber auf den Asphalt. Zu den Aktionsformen gehört auch das Ankleben oder Bewerfen weltbekannter Gemälde.

Ziel ist die Öffentlichkeit auf die laut IPCC-Bericht drohenden Kipppunkte der akuten Klimakrise hinzuweisen und die Politik zu effektiven Maßnahmen zu bringen. Kraft des zivilen Ungehorsams und durch Störung öffentlicher Routinen soll durch Irritation und Information das Krisenbewusstsein forciert werden. Auch in Bonn-Bad Godesberg werden die Stimmen der jungen Akteure laut: „Tempolimit sofort! Einhundert Kilometer pro Stunde! Ausbau des Nahverkehrs! 9 Euro für alle! Investitionsstop für fossile Energien!“ Interessant sind kurz vorgetragene persönliche Bezüge der Akteure zum Klimawandel. So erzählt Linda Belinda Podszus, dass sie im Urlaub in Slowenien im Sommer Panik bekam, als der Berg brannte, auf dem sie wandern wollte und zugleich die Autobahn gesperrt war.

Eingebettet sind die Appelle der Figuren in das Drama <>Recht auf Jugend (1913), das vom Expressionismus geprägte Jugenddebüt von Arnolt Bronnen (1895-1959). Der österreichische Theaterautor und Regisseur schrieb seinen radikalen Appell zur Veränderung im Alter von 17 Jahren am Vorabend des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Zeitenwende. Das Werk richtet sich gegen etablierte Autoritäten und erstarrte Denkweisen. Autor Lothar Kittstein passte die Vorlage für die Jetztzeit an und ergänzte Sätze und Argumentationslinien der Klimakämpfer sowie erregte persönliche Ausrufe der Akteure.

Chorisch erklärt das Septett auf der Bühne, dass es kein Vertrauen mehr habe in die Regierung. Die soziale Bewegung Fridays 4 Future findet es zu nett, zu lasch, zu kalkulierbar, und Demos erachtet es sowieso als sinnlos. Die jungen Menschen wollen die Leute wachrütteln und erklären, dass ihnen die Klimakrise jede Hoffnung nimmt. Es gilt anzupacken in „Lützerath, Grünheide, Neurath, Datteln, bei der A100 in Berlin“. Sie sind gegen neue Autobahnüberquerungen an großen Flüssen wie dem Rhein und skandieren: „Hunderte Millionen Euro für Beton und Blech." Sie erklären: „Ich bewerb mich nicht mehr. Ich hab für die Arbeit keine Zeit – die Pflicht zur Arbeit ist doch eben Teil von all dem Mist, Ist doch Beschiss!“ Die Aktivisti ermutigen sich gegenseitig, wenn sie erfolgreiche historische Proteste der Vergangenheit, gegen die Rassentrennung, für das Frauenwahlrecht oder den Umweltschutz listen.

Es folgen Ansprachen der Eltern (Sophie Basse und Daniel Stock) an die jüngere Generation. Vater und Mutter möchten im peinlichen Jugendslang auf ihre mittlerweile erwachsenen Schützlinge einwirken. Sie verweisen auf andere Probleme auf der Welt, wie die „alte, neue Geißel Krieg“, und wünschen, dass ihr Kind den erfolgversprechenden Studiengang Umweltingenieur absolviert. Die Position der Eltern wirkt teilweise albern und überzogen. Sie scheitern daran, ihr Kind vom exklusiven Engagement in der Widerstandsbewegung abzubringen. Ihre Kinder werfen ihnen als Vertretende früherer Generationen vor, dass sie es „verkackt“ haben.

Wir erfahren, dass die "Letzte Generation" aus einem Hungerstreik vor dem Bundestag im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 entstand, mit dem ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidaten erreicht werden sollte. Diese reale Episode im September 2021 wird nachgespielt. Der Klimakanzler (auch Daniel Stock) gibt dabei ein armseliges Bild ab. Die Aktivisti erinnern an hunderttausende an klimabedingter Dürre verhungerte Kinder in Ostafrika. Der Kanzler erkennt die Klimanotlage bedingt an, hält sich jedoch an leeren Phrasen fest und nimmt das Engagement der Jugendlichen sichtlich wenig ernst. Sie betonen, dass die Kipppunkte im Klimasystem in Bewegung geraten; das Eisschild Grönlands, der Amazonas-Regenwald oder der Golfstrom, Temperatursteigerungen des Kontinents, das Schmelzen der Alpengletscher. Er ruft aus „Wollt ihr totale Klimapolitik!“ und verweist auf seines Erachtens dringlichere Probleme wie das Ankurbeln der Wirtschaft. Die Aktivisti sind entsetzt.

Eine Arbeiterin (Sophie Basse) erklärt den Aktivisti „Protest ist Luxus!“. Sie rechnet vor, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung gut zwanzig Prozent der CO2-Emissionen verursacht. Ein Journalist (Daniel Stock) möchte rasende Hassgefühle für seine Schlagzeilen festhalten und fragt die Aktivisti gezielt nach ihren Gefühlen. Die Klimaaktivisti werfen einer beherzten Vertreterin der Grünen (Sophie Basse) heuchlerischen Verrat vor. Doch auch die radikalen Klimaprotestler werden beschimpft; als Umweltterroristen, verzogene Wohlstandskinder oder arbeitsscheues Gesindel, von dem insbesondere die Polizei „abgefuckt“ ist. Leider treffen VertreterInnen der Rechtspopulisten, die den Klimawandel bekanntlich leugnen, in der Inszenierung nicht auf die Klimaaktivisti. Zuletzt wird Christian Lindner (Daniel Stock) von der FDP als arrogant und unbelehrbar vorgeführt. Der amtierende Finanzminister ruft vernichtend aus: „Vorsichtig Autofahrer, langsam fahren! Übles Aktivistenfluidum! Bloß Hirn ist nicht dabei.“ Prompt tragen die Akteure übergroße Gesichtspappmasken von Christian Lindner und beschmieren dabei den Bühnenraum noch mehr mit dunkler Farbe. Sie tanzen derweil lustvoll zu „Around The World (La La La La La)“ von ATC.

Im Schlussappell wird das Publikum Narren geheißen, wenn es die Gefahren der drohenden Kipppunkte nicht sieht. Die Akteure verbeugen sich zum Premierenapplaus nicht.

*

Der Kampf gegen den Klimawandel gilt mit als dringlichste Herausforderung der Gegenwart. Er entscheidet auch darüber, wie wir in Zukunft leben können. Die Nutzung fossiler Brennstoffe soll bis 2050 auslaufen. Es braucht bessere Rahmenbedingungen für Innovationen zur Bekämpfung der Erderwärmung. Es braucht staatliche Anreize für Technologiesprünge durch steuerliche Zuschüsse und Unterstützungen etwa für Elektroautos. Wie könnte hierzulande eine ruhige, planvolle Bekämpfung der Erderwärmung aussehen? Wie kann den BürgerInnen ein Transformationsprozesses hin zu mehr Nachhaltigkeit vermittelt werden? Nach der Vorführung verteilen Klimaaktivisten Flyer und laden zu Gesprächen ein.

Volker Löschs Inszenierung von Recht auf Jugend schafft eine eindrückliche und unterhaltsame Verbindung aus Emotion und Information. Am Theater Bonn gibt es bereits themenverwandte Stücke: Simon Solberg brachte Maja Göpels und, wie später bekannt wurde auch Marcus Jauers Sachbucherfolg Unsere Welt neu denken auf die Bühne, das auch Umweltfragen verhandelt. Auch Pussy Riot, nach dem Manifest von Nadja Tolokonnikowa, widmet sich politischem Engagement.

Ein anregender und aufgrund der faktenreichen Textflut auch etwas ermüdender Theaterabend.



Recht auf Jugend am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 1. November 2022
ID 13887
RECHT AUF JUGEND (Schauspielhaus Bad Godesberg, 28.10.2022)
Inszenierung: Volker Lösch
Bühne: Valentin Baumeister
Kostüme: Teresa Grosser
Licht: Max Karbe
Dramaturgie: Jan Pfannenstiel
Mit: Markus J. Bachmann, Sophie Basse, Linda Belinda Podszus, Zoë Ruge, Paul Michael Stiehler, Daniel Stock, Irma Trommer, Tim Jakob Wechselmann-Cassim und Sandrine Zenner
Premiere am Theater Bonn: 28. Oktober 2022
Weitere Termine: 03., 09., 13., 19., 26.11./ 17., 21.12.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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