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Premierenkritik

Biedere

Bühnen-

fassung



Matthias Brandt in Oliver Reeses Mein Name sei Gantenbein (nach Max Frisch) am Berliner Ensemble | Foto (C) Matthias Horn

Bewertung:    



„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht. Jetzt sucht er die Geschichte dazu.“ heißt es in Max Frischs 1964 erschienen Roman Mein Name sei Gantenbein. Die Aussage bildet das Motto für eine zum Teil recht verwirrenden Geschichte, in der ein Ich-Erzähler ständig neue Identitäten und Geschichten wie Kleider anprobiert. Frisch nannte das auch Entwürfe zu einem Ich. Mit einem „Ich stelle mir vor:“ entwickelt der Autor die möglichen Lebensgeschichten dreier Personen wie jenen Gantenbein, der nach einem Verkehrsunfall vorgibt, blind zu sein, dann Enderlin, ein zögerlicher Kunsthistoriker mit Ruf nach Harvard, oder der Architekt Svoboda, Ehemann der Schauspielerin Lila, zu der alle drei ein Verhältnis haben. Irgendwann verschwimmen diese Personen auch miteinander. Ein Was-wäre-wenn-Spiel mit wechselnden Identitäten und Lebensverläufen, das scheinbar wie gemacht ist für das Theater, wie auch Max Frischs Romane immer wieder gern für die Bühne adaptiert werden. Am Berliner Ensemble versucht es nun Intendant Oliver Reese zum wiederholte Mal mit einem Soloabend für einen Schauspieler, den er im deutschen TV-Star Matthias Brandt gefunden hat.

Nun wirkt aber dieser Text auch recht sperrig, wenn Frisch auf den ca. 300 dicht beschriebenen Seiten zunächst aus einem immer wieder abschweifenden Vorspiel in mehreren Versuchen die Figur des Gantenbein entwickelt, in einigen Episoden dessen Ehe zur Schauspielerin Lila und die Vorzüge des für blind gehaltenen Sehenden beim Beobachten der anderen Personen beschreibt, unterbrochen mit zum Teil nicht klar zuordenbaren Erzählsträngen und der Einflechtung des Enderlin, der nach einer Krankheit im Spital liegt und glaubt, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat, und schließlich noch die Vorgeschichte mit Lilas erstem Ehemann Svoboda dazukommt. Übrig bleibt schließlich Gantenbein, der weiter um seine Geschichte kämpft und Hunger nach Leben hat. Als monologischer Erzählstoff bietet das nicht gerade viel dramatisches Futter für ein theatrales Bühnenspiel.

Hansjörg Hartung hat Matthias Brandt einen holzvertäfelten Bühnenkasten gebaut, der nach hinten noch mit kleineren Kästen in die Tiefe geht. Verschiedene Lichteffekte in den Rahmen sorgen für die stimmungsmäßig passende Beleuchtung. Brandt tritt auf im grauen Anzug mit Hut und plaudert sich ganz nonchalant in seine Rolle des den Blinden spielenden Gantenbein. Aus Schubfächern und Türen im Rahmen des Kastens werden Requisiten wie Blindenbrille, Stock oder Whiskyglas geholt. Es fehlen eigentlich nur noch die Zigarren, die der Protagonist im Roman ständig raucht. Wir befinden uns aber nicht mehr in den 1960er Jahren, wo das qualmende Accessoire zu jeder Männerrunde gehörte. Brandt spielt den charmanten Herrn mit intellektuellem Einschlag und nimmt das Publikum sofort für sich ein. Genau dafür hat ihn Oliver Reese geholt. Es ist leider das einzige Plus des Abends.

Das Ganze wirkt auf Dauer doch etwas bieder, wie aus der Zeit gefallen. Das Spiel mit den Identitäten ist auch nicht gerade neu am Theater. Brandt wechselt natürlich die Kleidung, andere Kostümteile und Requisiten entsorgt er einfach in den Bühnengraben. Von unsichtbarer Hand hereingefahren werden Flugzeugsitze, ein Krankenbett oder ein Plüschhocker, auf dem Gantenbein seine Maniküre von der Edelprostituierten Camilla erhält. Brandt streckt die Hand aus, säuselt mit hoher Stimme die kurzen Einwürfe Camillas. Viel Overacting in Mimik und Gestik. Vom Kussmund bis zum Wutanfall mit Fußtritt hat Brandt auf seiner Darstellungspalette alles zu bieten. Da wird wie im Roman ein Blumenstrauß aufgebüschelt. Jeder Schlagsatz sitzt und wird im Zweifelsfall nochmal wiederholt. Dazu erklingt leiser Jazz, der sich manchmal zu einer nervenden Fahrstuhlmusik aufschwingt.

Identitäten tauschen wie die Kleidung heißt aber nicht, sich einfach einen anderen Anzug anzuziehen, eine alberne Nasenbrille mit Bart aufzusetzen oder sich mit einer Flasche Wein in Rage zu reden. Reese lässt Brandt die wichtigsten Stationen der Persönlichkeitsspaltung in die Figuren Gantenbein, Enderlin und Svoboda durchleben. In der Beziehung zur Schauspielerin Lila schnurrt das aber zu einer peinlichen Eifersuchtsdramatik zusammen. Schon bei Frisch wirkt die Beschreibung der ständigen Angst des Mannes, dass seine Frau ihn betrügen könnte, wie ein Problem aus einem anderen Jahrhundert. Hier muss Brandt zähneknirschend Liebesbriefe lesen und gibt sich so ein wenig der Lächerlichkeit preis. Ein billiger Lacher, wenn man bedenkt, welche Bandbreite Frischs Roman in dieser Hinsicht zu bieten hat. Viele dieser Nebenerzählungen wie etwa die von Lila und Gantenbein als altes Paar Philemon und Baucis sind zwangsläufig dem Strich zum Opfer gefallen. Dafür muss dann noch unbedingt ein großes Ultraschallbild zur möglichen Schwangerschaft Lilas erscheinen. Gesellschaftlich, politisch oder als große Ichseins-Philosophie hat der Abend leider nichts zu bieten.



Matthias Brandt in Mein Name sei Gantenbein am BE | Foto (C) Matthias Horn

Stefan Bock - 15. Januar 2022
ID 13400
MEIN NAME SEI GANTENBEIN (Berliner Ensemble, 14.01.2022)
Regie/Bearbeitung: Oliver Reese
Bühne: Hansjörg Hartung
Kostüm: Elina Schnizler
Musik: Jörg Gollasch
Licht: Steffen Heinke
Dramaturgie: Johannes Nölting
Mit: Matthias Brandt
Premiere war am 14. Januar 2022.
Weitere Termine: 18., 19., 23., 24., 25.01. / 01., 02.02.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de/


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