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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Über eine

problematische

Liebe in den

letzten Jahren

der DDR



Kairos am Staatstheater Cottbus | Foto (C) Frank Hammerschmidt

Bewertung:    



Kairos, der Gott des richtigen Augenblicks, hat vorn an der Stirn eine Locke. Da kann man ihn festhalten. Am Hinterkopf hat er eine Glatze, an der man abrutscht, wenn er an einem vorbei ist. So steht es im Roman Kairos von Jenny Erpenbeck. Die 1967 in Ostberlin geborene Schriftstellerin ist dafür mit dem Uwe-Johnson-Literaturpreis ausgezeichnet worden. Sie erzählt darin von der leidenschaftlichen aber auch problematischen Liebesbeziehung der zu Beginn 19jährigen Katharina mit dem 34 Jahre älteren, verheirateten Schriftsteller Hans. Ort der Handlung ist Ostberlin, drei Jahre vor der Wende. Katharina macht gerade eine Ausbildung zur Schriftsetzerin und will anschließend Gebrauchsgrafik in Halle studieren. Hans ist überzeugter Sozialist und hat eine traumatische Fluchterfahrung aus Ostpreußen. Sein Vater, einst überzeugter Nationalsozialist, macht nach dem Krieg wieder Karriere in Westdeutschland. Als 17 jähriger geht Hans in die DDR und studiert dort Literatur. Katharina und Hans treffen sich an einem regnerischen Tag zufällig im Bus und verlieben sich ineinander. Der Roman erzählt die Liebesgeschichte, die durchaus toxische Züge trägt, parallel zum Zerfall der DDR. Nach dem Tod von Hans reflektiert die ältere Katharina beim Blättern in Briefen und Dokumenten aus zwei Kisten Nachlass die damaligen Ereignisse und ihre Beziehung.

*

Armin Petras, Hausautor und -regisseur am Staatstheater Cottbus hat eine Bühnenfassung des Romans geschrieben, die die Schauspielerin und Regisseurin Fania Sorel in der Kammerbühne inszeniert. Kein sehr leichtes Unterfangen, da der Roman die komplizierte Liebesgeschichte der beiden mit ihren Höhen und Tiefen über fünf Jahre lang verfolgt. Die Regisseurin hat dafür zwei Schauspielerinnen und einen Schauspieler besetzt. Nathalie Schörken ist die Katharina von einst und Sigrun Fischer die von heute. Den Hans verkörpert Ingolf Müller-Beck. Ann-Christine Müller hat den dreien ein drehbares Raumgerüst gebaut, das zunächst mit Vorhängen geschlossen ist und später das Arbeitszimmer von Hans, die Studentenbude von Katharina oder ein Matratzenlager zeigt.

Der Roman spielt aber nicht nur in den Wohnungen der beiden. Sie treffen sich auch in bekannten Cafés und Restaurants, was einen Einblick in die Vergangenheit der Ostberliner Künstlerbohème gibt. Hans verkehrt mit Christa Wolf und Heiner Müller. Er erklärt Katharina Kunstwerke, spielt ihr Musikstücke von Bach und Ernst Busch vor. Sie ist fasziniert von dem älteren Mann. Eine Konstellation, die zunächst für beide erfüllend ist. Aber von Anfang an ist da auch die Angst sich unglücklich zu machen. „Wir sind schon mittendrin“, sagt Katharina gleich zu Beginn der Beziehung. „Solange sie noch Fragen an mich hat, wird sie mich lieben“, hofft Hans. Eine Liebe, die bis zur völligen Ergebenheit geht und auch sadomasochistische Züge trägt. Eine stetige On-Off-Beziehung, wie man heute sagen würde. Nach einer Affäre Katharinas mit einem jungen Bühnenbildner bei einem Praktikum in Frankfurt/Oder beendet Hans die Beziehung und unterzieht Katharina demütigenden Exerzitien. Eine körperliche und psychische Abhängigkeit, die es gilt, auf der Bühne darzustellen.

Das gelingt hier auch sehr gut. Das Paar ist sich immer sehr nah. Die erste Begegnung wirkt noch etwas ungelenk. Hans verblüfft die offene junge Frau. Sie verheddern sich in ihren Jacken. Ein Ritual mit Katharinas Mantel erzählt auch der Roman. Die Inszenierung findet da andere Bilder. Sigrun Fischer als ältere Katharina spricht aus dem Zuschauerraum ein, souffliert, schlägt vor, berichtigt, als wäre man noch auf der Probe. Einige Szenen wirken auch wie improvisiert. Ein Ausprobieren der Möglichkeiten. Die Inszenierung konzentriert sich ganz auf die Beziehung. Der Plot des Romans wird in den knapp 2 Stunden aber auch noch nebenbei abgespult. Eine Reise Katharinas zum Geburtstag der Großmutter in Köln. Die am Tag des Mauerbaus zerrissene Familie der Mutter. Katharina erlebt den Westen mit Konsumrausch und Sexshops im Technogewitter. Zur Reise des Paars nach Moskau werden etwas klischeehaft die Sowjet-Flagge und Hammer und Sichel geschwenkt.

Musik ist hier auch ein stetiger Begleiter. Bach, Ernst Busch, Mireille Mathieu und Jazzmusik wird immer wieder eingespielt. Später wird Nathalie Schörken selbst singen, I’m in Recovery von der Popsängerin-LP. Vor der Genesung steht hier aber die seelische und körperliche Verletzung. Die dauernde Abrichtung, die der Roman beschreibt, wird hier nur in einigen Szenen deutlich. Hans macht Katharina Vorwürfe, ist eifersüchtig, traut ihr nicht. Der Zusammenbruch nach der Trennung ist schwer. „Was habe ich falsch gemacht?“ ist die verzweifelte Frage Katharinas. Hans gefällt sich als Erklärer, spielt seine Macht aus. Während Katharina in Frankfurt eine Opern-Premiere in hat, feiert er auf der Premierenpartie Der Lohndrücker von Heiner Müller an der Volksbühne die Nacht durch. Müller-Beck erzählt hier auch von einem jungen Regisseur namens Frank. Ein kleiner Insider-Gag.

Im Gegensatz zum Roman wird Hans aber auch als verletzlich gezeichnet. Etwas lächerlich wirkt Müller-Beck, als er Hans‘ Rauswurf durch seine Frau beklagt. Er ist nicht fähig einen eigenen Haushalt zu führen. Immer stiller wird er, als nach der Wende der schnelle Anschluss erfolgt, der Rundfunk abgewickelt und er selbst entlassen wird. Auch sein Buchprojekt wird vom Verlag zurückgestellt. 40 Jahre umsonst. Müller-Beck hat hier seinen emotionalen Ausbruch. Hans‘ Welt bricht zusammen, während sich die Welt für Katharina öffnet und sie nach Italien und Ägypten reist. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die im Roman recht ausführlich erzählt werden, reiht die Inszenierung schnell aneinander. Hans‘ Stasi-Vergangenheit ist ganz gestrichen. Die Wendeereignisse und Christa Wolfs Aufruf für eine sozialistische Alternative werden kurz abgehandelt. Es geht um Freiheit und um die Wahrheit. Die „Lizenz für den Blick zurück“ haben nun andere. Man könnte die Parallelität vom Ende der Beziehung und dem der DDR auch als Parabel auf eine doppelte Emanzipation lesen. Die letzen Worte der Inszenierung gehören der nun reiferen Katharina.



Kairos am Staatstheater Cottbus | Foto (C) Frank Hammerschmidt

Stefan Bock - 4. April 2023
ID 14132
KAIROS (Kammerbühne, 01.04.2023)
nach dem Roman von Jenny Erpenbeck in einer Fassung von Armin Petras

Regie: Fania Sorel
Bühne: Ann-Christine Müller
Kostüme: Mayan Frank
Dramaturgie: Franziska Benack
Besetzung:
Katharina 1 … Sigrun Fischer
Katharina 2 … Nathalie Schörken
Hans … Ingolf Müller-Beck
Premiere am Staatstheater Cottbus: 1. April 2023
Weitere Termine: 08.04. / 19.05. / 04., 24.06.2023


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatstheater-cottbus.de/


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