Von Dada
nach Java
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Vernesa Berbo (als Tomer) in Eine runde Sache - am Schauspiel Stuttgart | Foto (Detail): Björn Klein
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Bewertung:
Der Roman Eine runde Sache des israelischen Schriftstellers Tomer Gardi ist eine kuriose Konstruktion aus zwei heterogenen Komponenten. Der in Berlin lebende israelische Landsmann Gardis Noam Brusilovsky hat ihn für die Bühne bearbeitet und für die Uraufführung im Kammertheater des Stuttgarter Schauspiels inszeniert. Ob die Spielplanentscheidung mit den aktuellen Debatten über die Haltung deutscher Institutionen zu Israel zu tun hat, wissen wir nicht. Fest steht, dass Stuttgarts Intendant Burkhard C. Kosminski schon vor dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 ein besonderes Interesse für und an Israel zeigte, das sich auch in Personalentscheidungen manifestierte. Im Zusammenhang mit Eine runde Sache lässt sich das freilich nicht am Thema, sondern nur an den Biografien der Autoren ablesen.
Brusilovsky hat die Zweiteilung des Romans beibehalten. Die erste Hälfte knüpft an die Tradition des Dadaismus und des intelligenten Blödelns an. In ihr treffen, in einem Wald aus Stoffstreifen, an einer schäbigen Buchhaltestelle und vor einem agilen Reichsadler (Marco Massafra), das Bühnen-Ich des Autors Tomer in militärischem Outfit (herausragend: die in Deutschland lebende Vernesa Berbo aus Bosnien als Gast), der in gereimten Versen mit klassischen Zitaten deklamierende Erlkönig (Reinhard Mahlberg), die Intendantin (Marietta Meguid) und der Hund Rex (Sebastian Röhrle), der gebrochenes Deutsch spricht, aufeinander. „Broken German“ ist freilich nicht, wie manche wenig belesene Kritiker meinen, eine Erfindung von Tomer Gardi, sondern hat, wenn auch unter anderem Namen, Vorläufer bis zurück in die Barocklyrik, oder, wenn man über den Tellerrand des Deutschen hinausschaut, etwa bei dem Russen Daniil Charms. Matthas Koeppel hat mehrere Bände mit seinen „starckdeutschen“ Texten veröffentlicht, und Ernst Jandl experimentierte immer wieder mit „heruntergekommener Sprache“.
Übrigens: der „Der ewige Jude“, als der Tomer an einer Stelle, sehr zu seinem Missfallen, bezeichnet wird, ist nicht nur der Titel eines üblen nationalsozialistischen Propagandafilms, sondern seit dem Mittelalter der Beiname der keineswegs immer antisemitischen Legendenfigur Ahasver.
Die zweite Hälfte des Theaterabends erzählt die aus dem Hebräischen übersetzte Geschichte des indonesischen Malers Raden Saleh, der aus Java in die Niederlande geholt wurde, um Porträts der Herrscherhäuser zu malen, und schließlich, nach Java zurückgekehrt, der Vergessenheit anheimfiel. Dieser Teil wird tatsächlich, als epischer Text, erzählt, unterbrochen lediglich durch kurze Dialoge, die die Schauspieler abwechselnd im Kostüm von Museumswärtern sprechen. Teils computeranimierte großformatige Bilder liefern im wörtlichen Sinn den Hintergrund. Die Regie verzichtet auf Hektik, lässt Zeit zum Betrachten: Selten erschien die Mode der Videoprojektionen so funktional und sinnfällig wie hier. Dieser zweite Teil, der sich stilistisch so radikal vom ersten unterscheidet, ist nicht weniger als eine Kolonialgeschichte am Einzelbeispiel. Belehrend und keinen Augenblick langweilig.
Vielleicht ist das ja die heimliche Spur, die nach Israel führt: das Interesse an der Geschichte des Kolonialismus, das in Deutschland immer noch unterentwickelt ist.
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Eine runde Sache am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) Björn Klein
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Thomas Rothschild - 21. September 2025 ID 15471
EINE RUNDE SACHE (Kammertheater, 20.09.2025)
nach Tomer Gardi
Inszenierung: Noam Brusilovsky
Bühne & Kostüme: Maria Magdalena Emmerig
Musik & Video: Florian Schaumberger
Licht: Marc Döbelin
Dramaturgie: Benjamin Große
Mit: Vernesa Berbo, Sebastian Röhrle, Reinhard Mahlberg, Marietta Meguid und Marco Massafra
Premiere am Schauspiel Stuttgart: 20. September 2025
Weitere Termine: 25.-27.09./ 10., 11., 23., 24.10/ 09., 09.11.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspiel-stuttgart.de
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