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Premierenkritik

Das Ende

von Eddie



Lydia Stäubli als Beatrice und Christoph Gummert als Eddie in Ein Blick von der Brücke am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Bewertung:    



Noch vor Spielbeginn zieht er auf der Vorderbühne mit verkniffenem Ausdruck einsame Kreise. Eddie Carbones (Christoph Gummert) Blick scheint argwöhnisch, manisch und in sich gekehrt. Mit seinen Boxhandschuhen droht er einem imaginären Gegner. Wie in einem antiken Kolosseum sind treppenförmige Reihen um ihn herum aufgebaut (Bühne: Sebastian Hannak). Bald gesellen sich vereinzelt Beobachter auf diese Reihen. Alle Blicke sind auf Eddie gerichtet. Der Chor der Beobachter wendet sich alsbald an ihn mit gleichnishaften Worten. Plötzlich öffnet sich ein Vorhang mit Blick auf den hinteren Bereich der Bühne. Hier vollführt Catherine (Sandrine Zenner) zu eingespielter Musik lebendig einen Stepptanz. Die Lebenslust und aufmüpfige Leichtigkeit von Eddies Nichte bildet einen effektvollen Kontrapunkt zu seiner Schwermut. Frech, selbstbewusst und lässig zeigt der Teenager viel Haut und lässt die langen Haare durcheinanderwirbeln. Ein anmutiger, flüggewerdender Vogel und sein williger, bald besitzergreifender Beschützer.

Martin Nimz zeigt Arthur Millers sozialkritisches Drama Ein Blick von der Brücke (1955) am Theater Bonn mit vielen Bewegungs- und Stimmungsbildern. Unterstützt wird er hierbei durch Choreographien von Johannes Brüssau, welche die Figuren in der Gemeinschaft aber auch alleine spannungsvoll porträtieren. Ein wiederkehrender Chor der Statisten bürdet Eddie und dem Theaterpublikum in einsilbigen Essenzen kryptische Lehren auf.

Im New Yorker Hafenviertel unterhalb der Brooklyn Bridge lebt Eddie zusammen mit seiner Frau Beatrice (Lydia Stäubli). Er selbst kam vor 20 Jahren aus Italien hierher. Beatrice und er zogen hier die verwaiste Nichte Catherine wie eine eigene Tochter groß. Das Viertel ist von Einwanderung und einhergehenden Schwierigkeiten geprägt. Die kleine Familie weiß, dass die nachbarschaftliche Gemeinschaft illegal Eingewanderte schützt, indem sie sie in ihren Wohnungen versteckt. Es entspricht Eddies Ehrgefühl, zwei mit dem Schiff aus Sizilien ankommende, illegal eingewanderte Verwandte in der familiären Wohnung Zuflucht zu geben, Marco (Sören Wunderlich) und Rodolpho (Cedric Sprick). Es herrscht trotz fehlender Aufenthaltserlaubnis und fehlenden Pässen Vertrauen in den Zusammenhalt. Der jüngere der beiden, Rodolpho, will einen Ehebund eingehen, um bleiben zu können. Bald werfen Rodolpho und Catherine ein Auge aufeinander. Eddie überlegt aus Eifersucht und Egoismus, seine Angehörigen bei der Einwanderungsbehörde zu melden. Doch illoyalen Verrätern ist der Verstoß aus der Gemeinschaft gewiss.

Gefühle drücken sich in Bewegungen aus. Ausgelassen tanzen die Akteure zu stimmungsvollen Einspielungen von so unterschiedlichen Interpreten wie Gianna Nannini, T*Rex und Riton X Nightcrawlers. Spannungsvoll deutet sich an, dass der unnahbare und insgeheim traurige Eddie versucht, seiner Nichte auch missbräuchlich körperlich nah zu sein. Die pragmatische Beatrice sieht das Problem kommen. Sie bittet ihre Nichte, sich weniger offenherzig zu kleiden und bald auf eigenen Beinen zu stehen. Ihren Mann fragt sie: „Wann haben wir denn mal wieder Sex?“ Er fragt wiederholt wie beiläufig, ob es Kaffee gebe und wartet vergeblich. Catherine bemitleidet ihren Onkel. Ihr fällt es schlussendlich schwer, gedanklich Abschied von ihren Adoptiveltern zu nehmen. Gleichzeitig möchte sie sich aber auch der Übergriffigkeit Eddies erwehren, die er geflissentlich als Beschützerinstinkt tarnt. Die beiden Einwanderer Marco und Rodolpho lernen die Unsicherheit in dieser dysfunktionalen Familie zu fürchten. Getriebene Figuren handeln entsprechend ihrer Verhältnisse und den Zwängen ihrer Zeit.

Bald leuchtet nicht nur der Bühnenraum klinisch hell. Alle Figuren außer Eddie schmücken sich festlich in reinem Weiß. Trifft ihn als einzigem die Schuld? Der Chor spricht über Gerichtsbarkeit und Recht. Wenn Eddie seine Angehörigen verrät, handelt er gegen eigene Prinzipien, jedoch im Sinne des amerikanischen Staatsrechts. Was wiegt schwerer, der Verstoß gegen das Gesetz oder der gegen die Gemeinschaft. Wenn Eddie sanfte Musikstücke auf dem Plattenspieler – einziges Requisit im Raum – anwählt, ist sein Stuhl inmitten der Arena einsam. Die Angehörigen hegen noch ihren Groll. Doch wie legitim können Vergeltungsgedanken sein, wenn man nicht aus dem Affekt handelt? Christoph Gummert zeichnet seinen Eddie komplex auch als homoerotisch motivierte Figur, wenn er mit seinem gefühlten Konkurrenten Rodolpho innige Zungenküsse tauscht oder mit Marco einen schicksalhaften Pas-de-deux tanzt. Lang unterdrückte Sehnsüchte und Leidenschaft deuten sich hier an, aber auch Wut und Verzweiflung.

Es ist schön, dass dieses psychologisch eindrückliche Meisterstück nun, nach mehreren pandemiebedingten Verschiebungen, endlich gezeigt werden kann.



Sandrine Zenner als Catherine in Ein Blick von der Brücke am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu

Ansgar Skoda - 19. Februar 2022
ID 13470
EIN BLICK VON DER BRÜCKE (Schauspielhaus, 17.02.2022)
Inszenierung: Martin Nimz
Bühne: Sebastian Hannak
Kostüme: Kerstin Grießhaber
Licht: Sirko Lamprecht
Dramaturgie: Male Günther
Choreografie: Johannes Brüssau
Besetzung:
Eddie … Christoph Gummert
Beatrice … Lydia Stäubli
Catherine … Sandrine Zenner
Marco … Sören Wunderlich
Rodolpho … Cedric Sprick
Chor: Pia Albrecht, Jörg W. Birk, Jasmin Brincker de Herrera, Isolde Hammans, Bernhard Hieronymi, Marion Kerluku, Christian Padberg, Andrea Rhein, Urte Seiffert, Thomas Weber, Wolfgang Wirth und Christine Wolff
Premiere am Theater Bonn: 17. Februar 2022
Weitere Termine: 19.02./ 10., 26.03./ 10., 14., 29.04.2022


Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de


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