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Premierenkritik

Kein

Ausgang



Marius Huth, Alexander Wertmann und Sandra Hüller (v. li.) in Der Würgeengel am Schauspielhaus Bochum | Foto © Armin Smailovic

Bewertung:    



In einem Klassenzimmer harren fünf Akteure mit Blick gen Publikum aus. Ihre Stühle und Tische wirken zu klein. Bereits zu Beginn versuchen vereinzelt Akteure die Bühne zu verlassen. Sie werden durch die im Hintergrund sitzende, sichtlich angespannte Gastgeberin (Sandra Hüller) aufgehalten. Die Akteure sprechen sich mit ihren realen Vornamen an. Obwohl der Ausgang in Sicht ist, wird der Abtritt nach der missglückten Verabschiedung scheinbar zum unüberwindbaren Hindernis. Die Figuren stehen im Bann des Raumes. Sie sind mit der Irritation konfrontiert, die Ebene nicht verlassen zu können. Die Darsteller wiederholen gegenseitige Ansprachen, mal herzlich und mal gleichgültig und kalt. Die Akteure bezeugen, dass sie doch nicht hysterisch, hypnotisiert oder geistesgestört, jedoch sensibel seien. Der Abgang bleibt non-passabel, bleibt auch die Zukunft ungewiss?

Das Bühnenbild von Johannes Schütz mit dunklem Bühnenboden zeigt eine Schulklasse mit einem von der Decke hängenden Rechteck (ähnlich dem Bühnenbild vom Bochumer Hamlet). Dieses schwebende und drehbare Objekt wird mehrfach bewegt, was dezente Lichtwechsel motiviert. Auf das Objekt werden Detailaufnahmen der Darsteller aber auch Großaufnahmen von Ameisen eingeblendet. Eine Kamera, die Live-Bilder projiziert, fährt am Bühnenrand hin und her (Video: Voxi Bärenklau). Die Kostüme von Katrin Aschendorferinnern an die Mode der 1960er.

Der Ausdruck „Würgeengel“ wird an zwei Stellen in der Bibel erwähnt, in denen es um Schwellen oder Übergänge geht. Im Mittelalter wird der Begriff als Synonym für Seuchen, wie die Pest oder die Cholera, gebraucht.

*

Am Schauspiel Bochum feierte Intendant Johan Simons mit Der Würgeengel Premiere an einem Tag, an dem der öffentliche Nahverkehr streikte und die Gewerkschaft gemeinsam mit der Schüler-Klimabewegung Fridays for Future protestierte. Krisen durchschütteln gegenwärtig die Welt, ob nun der Klimawandel und einhergehende Naturkatastrophen, die Pandemie oder Russlands verheerender Angriffskrieg. Simons Theaterstück verweist auch auf die gegenwärtige Politik, die mitunter an gesellschaftlichen Herausforderungen verzweifelt. Extreme Stimmen erhalten auch auf der Bochumer Bühne vermehrt Zuspruch.

Auf der Bühne werden bald Rufe wie „Man hat uns vergessen“ oder „Ich habe Durst“ und „Mir ist kalt“ laut. Die Akteure stöhnen und seufzen. Sandra Hüller wiederholt, dass selbst Ratten ein sinkendes Schiff verlassen. Während Anne Cathrin Buhtz kehlige Gurgelgeräusche macht, winden sich die anderen ausdrucksstark. Ein blasser Akteur mit verklebten langen Haaren (Marius Huth) wird als krebskrank vorgestellt, ein anderer im Smoking (Alexander Wertmann) behauptet, der Arzt zu sein. Er und sein Patient geben sich einen lang anhaltenden Kuss, bei dem beide nacheinander kurzzeitig das Bewusstsein zu verlieren scheinen. Im nächsten Moment erklärt der Arzt einem Dritten (Roman Kanonik) kalt, dass sein Patient bereits in Auflösung begriffen sei und er ihm nur noch höchstens drei Monate gebe.

An der rechten und linken Bühnenseite sind zwei Musiker platziert, an einer Hammondorgel (Moritz Bossmann) respektive einer Kirchenorgel (Laura Wasniewski). Begleitet von Orgelklängen singt das Ensemble Psalmen, neu arrangiert von Steven Prengels. Die Darsteller versuchen sich in einer innigen Jesuliebe, wenn sie Kirchenlieder, wie „Weg mit allen Schätzen“, „Jesu, meine Freude“ oder „Alle Menschen müssen sterben“ interpretieren. Doch auch die Psalmen befrieden nicht. Irritierungen wiederholen sich, Stimmungen kippen regelmäßig.

Sandra Hüller unterhält ihre Gäste und auch das Publikum gefällig mit lustvoll geschmetterten Popsongs. Ihre halsige, fast geschriene Interpretation von Cyndi Laupers „Girls just wanna have fun“ klingt wie ein wütender Hilferuf. Auch sanfteren Titeln von Low („Just make it stop“) über Portishead („Roads“) gewinnt sie irisierend neue Nuancen der Unsicherheit ab. Während sie gekonnt trällert, tändelt sie über die Bühne und schwingt ihre durchsichtige Handtasche, die einen Reisepass und Dollarnoten enthält. Am Boden liegend interpretiert sie schließlich leidenschaftlich die Hymne „Hero“ von Mariah Carey, während sie mit gestreckten Beinen an ihren männlichen Co-Stars hochfährt und ihre Stöckelschuhe ausgerechnet provokant auf dem Gemächt von Roman Kanonik platziert. Doch ihr Co-Star findet keinen Ausweg aus dem Eingeschlossensein. Gegen Ende wird Moritz Bossmanns Eigenkomposition „Lunatics“ noch ein Erlebnis: „Is there a lunatic?“

* *

Der Würgeengel basiert auf einem gleichnamigem, surrealistischem Filmklassiker aus dem Jahr 1962 von Luis Buñuel. Buñuel lebte und arbeitete in Mexiko, wohin er von der spanischen Franco-Diktatur emigriert war. Er zeigt in dem 1962 entstandenen Film eine wohlhabende, bürgerliche Gesellschaft, die sich zu einem Diner zusammenfindet. Die Abendgesellschaft ist in ihren Konventionen letztlich gefangen, ohne dass es einen wirklichen Ausweg gibt. In Buñuels alptraumhaft-surrealer Szenerie können die Gäste den Raum nicht mehr verlassen. Im Laufe der nächsten Stunden und Tage spitzt sich die Situation immer mehr zu und bisher kaschierte Abgründe treten immer mehr zutage. Bereits 1929 und 1930 entstanden die ersten surrealistische Filme Der andalusische Hund und Das goldene Zeitalter, wodurch der damaligen Gesellschaft einige verwirrende Impulse gegeben wurden. Die Kunstrichtung des Surrealismus entwickelte sich aus dem Dadaismus, der während des ersten Weltkriegs entstand. Und noch heute wirkt in Anbetracht des menschengemachten Grauens von Krieg und Elend die spielerische Absurdität des Dadaismus geradezu befreiend.

Dies geschieht auch in Johan Simons Inszenierung nach der Textfassung von Angela Obst. Es ist hier kein feiner Salon, in dem die Gäste sich treffen, sondern eine Schulklasse, in der die Protagonisten in ihren Haltungen gefangen sind. Anders als bei Buñuel gibt es in dieser Theaterinszenierung so etwas wie eine Mahnung oder Hoffnung, die mehrmals in Gestalt eines Mädchens (Mina Skrövset) auftritt. Sie kann auch immer wieder die Bühne verlassen, während die anderen Protagonisten dies erstaunt bis fassungslos beobachten. Zwei Schulvorträge liest das Kind vor. Der erste handelt von Perlbooten, auch Nautilus genannt, einem urzeitlichen schneckenähnlichen Meerestier, das durch Menschen in seiner Physiognomie genau berechnet ist. Wenn das Mädchen die logarithmische Spirale erwähnt, verdeutlicht sie die Möglichkeiten, die Natur ergründen zu können, erwähnt dann aber dass das Tier in seinem Bestand durch den Menschen bedroht ist. Der zweite Vortrag „Wohnungssuche bei Bienen“ thematisiert das intelligente Verhalten von Bienen, die ausschwärmen und es schaffen, gemeinsam ohne Anführer einen neuen geeigneten Ort für ihr Volk zu finden. Das Mädchen gibt ihr Papier ihrer Sitznachbarin ab. Nun liest Sandra Hüller mit schwankender Stimme und ein bisschen schambehaftet vor, dass sich selbst die Bienenkönigin hier dem Gemeinwohl unterordnet. Zuletzt sitzt Hüller vis-à-vis mit dem Mädchen und interpretiert das sphärische „My Future“ von Billie Eilish.

Die Gesellschaft auf der Bühne schafft es nicht, ihr destruktives Verhalten zu ändern und die überkommene Umgebung zu verlassen, was noch in Buñuel Film gelang, um dann allerdings nach dem anschließenden Dankgottesdienst die Kirche nicht mehr verlassen zu können.

Mit Sprech- und Handlungspausen, sowie Wiederholungen, wird das Unabänderliche auch atmosphärisch vermittelt. Die Eingeschlossenen warten auf eine rettende Idee, auf Gott, auf ein Ende. Da ist das Publikum nach knapp zwei Stunden erleichtert, ganz einfach diesen Theaterraum wieder verlassen zu können, mit nur geringfügigem Stau im Ausgangsbereich.



Moritz Bossmann, Sandra Hüller, Anne Cathrin Buhtz und Alexander Wertmann (v. li.) in Der Würgeengel am Schauspielhaus Bochum | Foto © Armin Smailovic

Ansgar Skoda - 5. März 2023
ID 14087
DER WÜRGEENGEL (Schauspielhaus Bochum, 03.03.2022)
Regie: Johan Simons
Bühne: Johannes Schütz
Kostüme: Katrin Aschendorf
Lichtdesign: Bernd Felder
Video: Voxi Bärenklau
Musik: Moritz Bossmann und Steven Prengels
Sounddesign: Will-Jan Pielage
Dramaturgie: Angela Obst und Marleen Ilg
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Sandra Hüller, Marius Huth, Roman Kanonik, Alexander Wertmann und Mina Skrövset/ Tabea Sander sowie Laura Wasniewski (Kirchenorgel) und Moritz Bossmann (Hammondorgel)
Premiere war am 3. März 2023.
Weitere Termine: 18.03./ 19.04.2023
Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig


Weitere Infos siehe auch: https://www.schauspielhausbochum.de


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