Geteiltes Leid,
Grenzen des
Freud
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Julian Boine als Paul in Die Hysteriker am Theater der Keller in Köln | Foto © Mike Siepmann
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Bewertung:
Linie 16 hat 5 Minuten Verspätung, dann 10 Minuten, schließlich 15 Minuten. Schlussendlich entfällt sie. Reisen mit der Bahn ist nicht immer bequem, insbesondere wenn man Termindruck hat. Nicht umsonst resümieren Bahnreisende oft: wer sich auf die Bahn verlässt, der ist verlassen. Auch kompliziert kann es mitunter werden. Wer schon einmal in einer fahrenden Bahn mit dem Smartphone und einer regionalen Verkehrsdienstleister-App ein Ticket für eine Gruppe kaufen wollte, kennt die Aufregung. Man ist wie vom Schlag getroffen, wenn man nichtsahnend merkt, dass die App des Regionalbahn-Dienstleisters gar nicht auf einen Fahrkartenkauf ausgerichtet ist.
Der auf die Bahn wartende Paul (Julian Boine) ist vorsichtshalber zu Hause geblieben. Er wohnt nahe der Haltestelle. Er scheint kurz davor, sich aufzuregen. Doch dann besinnt er sich. Er könnte vor der Arbeit ja noch den Müll herausbringen. Das hätte er sonst nicht geschafft. Doch bei den Müllcontainern sieht er ausgerechnet, dass Nachbarn offensichtlich nicht die Papier- oder Plastik-Beschriftungszettel von den Teebeuteln abtrennen. Die Zettelchen mit Teenamen und Ziehzeit liegen im Biomüll. Seine Nerven geraten just etwas an ihre Grenzen. Wird der junge Mann während seiner Morgenrituale etwa sprichwörtlich aus der Bahn geworfen?
Die Hysteriker widmet sich phantasievoll dem Phänomen und der Etymologie der Hysterie. Emanuel Tandlers Komödie findet viele erhellende Assoziationen zur sogenannten „dissoziativen Störung“, einer Art Zerfall der Persönlichkeit. So wird erklärt, dass der Begriff vom altgriechischen Wort "Hysteria" (für Gebärmutter) abstammt. Paul ist unscheinbar, kein darauflos plappernder Stadtneurotiker wie im Klassiker von Woody Allen, der in seinen Filmen gerne auch hysterische Männer porträtierte. Die amüsante Suche nach der Hysterie des zunächst etwas farblosen Durchschnittsmannes Paul wird begleitet von musikalischen Einspielern wie „I’ve seen that face before“ von Grace Jones oder „O Superman“ von Laurie Anderson.
Morgan Sapiolin (Annina Euling), Marianna Belartes (Brit Purwin) und Mathilde Morejoy (Susanne Seuffert) begrüßen den über die Bühne hastenden Paul als Patienten im Institut für hysterische Untersuchungen (IHU). Die Damen in Trainingssuits variieren präsentierte Würfel einzelner Buchstaben des Akronyms IHU schnell zum Ausruf „HUI“. Sie erinnern an Hysterieforschung von Jean-Marie Charcot oder Sigmund Freud. Es gibt Exkurse in die Medizin, die Hysterie auch Frauen nachsagte, die sich nicht dem Patriarchat unterordnen wollten. Mit neuen femininen Vorgehensweisen und Praktiken möchte das Trio Paul von seinen alltäglichen Überforderungen entlasten.
Unterstützt wird es von sieben enthusiastisch folgsamen jungen Männern (Studierende der theatereigenen Schauspielschule, Namen s.u.). Diese bewegen sich behände und biegsam in eng anliegenden, glänzenden Ganzkörperkostümen in unterschiedlichen Farben. Kostüm- und Bühnenbildnerin Maria Strauch lässt den Aufzug des Chors farblich mit beweglichen und begehbaren, getönt durchscheinenden Boxen korrespondieren. Die Chormitglieder sprechen – teils animiert vom Frauentrio - flüsternd Pauls Emotionen und Ängste an, wiederholen seine Ausrufe, scharen sich tänzerisch um ihn.
Der Held lernt, Konflikte als Teil seines Lebens in den Alltag zu integrieren. Schlussendlich streift er feierlich eine Jacke mit farbig gestuften Lametta über und begibt sich ganz in den Kreis seiner Leidens-, respektive Spielgenossen. Die nun folgende Choreografie erinnert ein bisschen an Pina Bauschs legendäre Seasons.
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Die Hysteriker am Theater der Keller in Köln | Foto © Mike Siepmann
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Aufgrund grausamster Kriegsverbrechen im gegenwärtigen Ukrainekrieg diskutieren die Medien gerade viel über die gesellschaftliche Prägung toxischer Männlichkeit in der patriarchalen Diktatur Russlands. Der begabte Regisseur und Autor Emanuel Tandler (Das süße Verzweifeln, Liebe etc.) entwirft in Die Hysteriker ein komisches, liebevolles und auch friedvolles Bild einer verunsicherten Männlichkeit, in der Beunruhigung zur Energiequelle wird. Die Figur des Paul ordnet sich schlussendlich in eine bewegliche, zugewandte und interessierte Gemeinschaft ein, in der Schwäche zu zeigen als Stärke gefeiert wird. Der kurzweilige und eindrückliche Theaterabend bietet so eine schöne, offene und auch richtungsweisende Perspektive für das Eingeständnis von Schwäche, nicht nur den werten Geschlechtsgenossen.
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Ansgar Skoda - 16. April 2022 ID 13577
DIE HYSTERIKER (Theater der Keller, 140.4.2022)
Konzeption & Regie: Emanuel Tandler
Dramaturgie: Ulrike Janssen
Bühne & Kostüm: Maria Strauch
Technik: Tom Thöne
Regieassistenz: Sven Fritzsche
Mit: Julian Boine, Annina Euling, Brit Purwin, Susanne Seuffert sowie Francisco Akudike, Yannik Dirksen, Sam Gerst, Janis Günther, Philipp Joerres, Jonas Laiblin, Jan-Emanuel Pielow und Moritz Reinisch (als Chor)
UA war am 18. März 2022.
Weitere Termine: 22., 28.05./ 12., 16.06.2022
Weitere Infos siehe auch: https://theater-der-keller.de
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