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Kaninchen

statt

Kanönchen

Über drei aktuelle Aufführungen am Staatsschauspiel Dresden


Alice am Staatsschauspiel Dresden
Foto (C) Sebastian Hoppe



Der Zwischenruf bei der Schlussdiskussion des Berliner THEATERTREFFENs, wonach man den Kanon im Theater nicht mehr spielen könne, weil fast alle Stücke frauenfeindlich seien, ist zwar hanebüchen, aber niemand wagte zu widersprechen. Offenbar kennen die konformistischen Eiferer weder Molière noch Lessing, weder Lenz noch Ibsen, weder Tschechow noch Schnitzler, weder Wedekind noch O'Casey, weder Brecht noch Horváth. „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.“ Frauenfeindlich ist ein Stück, wenn darin Frauen zu einem höheren Prozentsatz karikiert oder ins Unrecht gesetzt werden als Männer. Männerfeindlich hingegen ist ein Theater, das einen Eichmann zum Protagonisten macht, nicht aber eine Blutige Brygida, das in Richard III. oder dem Fleischkönig Mauler unsere Gegenwart identifiziert, nicht aber in Lady Macbeth oder in Wassa Schelesnowa. Und selbst, wenn es so wäre, wie die Schmalspurdenkerinnen nachbeten, wäre es nicht abwegig, wenn das Theater daran erinnerte, was Patriarchat bedeutet, wie es ja auch rekapituliert, dass die Menschen einmal an mehrere mit einander streitende Götter geglaubt, ohne Smartphones mit einander kommuniziert und Konflikte mit Fäusten und Schwertern statt mit Panzern und Raketen ausgefochten haben.

*

Aber es stimmt noch nicht einmal, dass die „Klassiker“ die Spielpläne okkupierten. Es findet sich kaum noch ein Stadttheater, bei dem mehr als die Hälfte der angebotenen Stücke aus dem gescholtenen Kanon stammen. Und lieber, als beim Drama, „holt man“ das potentielle junge Publikum bei den Erfahrungen ab, die es vermutlich mit der Diskutantin beim THEATERTREFFEN teilt: bei Bestsellern, bei Zeichentrickfilmen oder bei Graphic Novels. Sie ersparen ihm und ihr die Gefahr der Begegnung mit Unbekanntem. Ob Kroetz und Fassbinder (noch) zum Kanon gerechnet werden dürfen, hängt davon ab, wie weit man diesen Begriff fasst. Lewis Carrolls Alice im Wunderland ist wohl Bestandteil des Kanons der Kinderbücher, aber gewiss nicht des Theaters. Erst recht nicht, wenn er, zusammen mit Alice hinter den Spiegeln und mit überlieferten, nicht immer verbürgten biographischen Details aus Carrolls Leben und seiner Beziehung zur realen Alice, unter dem lakonischen Titel Alice von Robert Wilson und Kathleen Brennan sehr frei bearbeitet wurde und Tom Waits eine fast durchgängige Musik dafür geschrieben hat.

Alice bleibt in der Regie von Mina Salehpour auch fast dreißig Jahre nach der Hamburger Uraufführung das Bildertheater, das man von Robert Wilson erwarten darf (der Starregisseur hat sich die Aufführungsrechte mitsamt Design und Konzept durch seinen Theaterverlag sichern lassen), und die Musik von Tom Waits erweist sich als unverwüstlich, zumal wenn dem Ensemble so hervorragende Musiker mit sichtlichem und hörbarem Vergnügen zur Seite stehen wie am Staatsschauspiel Dresden. Hier wird erfahrbar, was schon fast vergessen ist: dass es jenseits von Video theatrale Mittel, die Kostüme eingeschlossen, gibt, die ihre Wirkung über Jahrhunderte hinweg nicht verloren haben.

Bewertung:    



Wunschkonzert + Warum läuft Herr R. Amok? am Staatsschauspiel Dresden
Foto (C) Sebastian Hoppe


Mit Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten hat Peter Handke den Versuch gemacht, ein Schauspiel zu schreiben, das ganz ohne Dialoge auskommt. Franz Xaver Kroetz ist ihm zuvorgekommen und hat schon 19 Jahre davor mit Wunschkonzert dieses Experiment zu einem Erfolg geführt. In Dresden spielt Christine Hoppe mit deprimierender Eindringlichkeit das Fräulein Rasch (sorry, aber man kann das „Fräulein“ nur um den Preis der Vergewaltigung des Autors und seines Textes eliminieren), das fast eine Stunde lang banale alltägliche Dinge verrichtet, ehe es sich mit Tabletten umbringt. So einfach, so reduktionistisch hat Kroetz die Tristesse eines unerfüllten Lebens für das Theater eingefangen. Die Regisseurin Lilja Rupprecht beschränkt sich auf kurze Tempoveränderungen innerhalb der Konturen eines in Knallrot getauchten Hauses (Bühne: Paula Wellmann). Es ist nicht ohne Witz, dass die Souffleuse, gut sichtbar, bei einem Stück ohne Worte vor der Rampe sitzt.

Auf die Tragödie folgt die Groteske. Das Staatsschauspiel Dresden hat Wunschkonzert mit dem ursprünglichen Film Warum läuft Herr R. Amok? von Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler zusammengefügt. Mit verlängerten Schädeln und gelegentlichen skurrilen Haartrachten sehen die Figuren aus wie bayrische Verwandte der Addams Family. Lilja Rupprecht glänzt nun mit einer Dialogregie, die das Geschwätz Schlag auf Schlag umsetzt. Auch hier endet es tödlich. Mit dem Unterschied, dass Herr Raab seine Aggression nach außen kehrt, ehe er sie gegen sich selbst wendet. Nach diesem Theaterabend stellt man sich die Frage: Warum laufen angesichts solcher Verhältnisse nicht viel mehr Menschen Amok?

Bewertung:    



Watership Down - Unten am Fluss am Staatsschauspiel Dresden | Foto (C) Sebastian Hoppe


Richard Adams' exakt fünfzig Jahre, also ein Jahr mehr als Wunschkonzert alter und mehrfach adaptierter dicker Roman Watership Down – Unten am Fluss findet in der Welt der Kaninchen statt. Zum Glück lässt der Regisseur Tom Kühnel drei Viertel des Abends verstreichen, ehe er den Schauspielern Masken mit langen Ohren über die Köpfe zieht und als aufgeblasenes Schwarz-Weiß-Video den Zuschauern aufdrängt. Danach dürfen die Darsteller*innen noch herumhopsen und ihre Kunst kaninchentypischer Gesten demonstrieren. Zuvor aber sind sie nicht, wie in Tierfabeln oder Kinderbüchern, menschenähnliche Tiere, sondern kaninchenähnliche, Möhren knabbernde Menschen in schwarzen Hosen, kurzärmeligen weißen Hemden und grauen Krawatten. Was sie zeigen, ist ausgezeichnet gespielt, stellenweise – etwa bei der Schöpfungsgeschichte aus Sicht der Kaninchen – witzig, aber es bleibt inmitten des schönen Bühnenbilds von Valentin Köhler, einer Art runden Konferenzzimmers oder Foyers – ohne dramaturgische Spannung. Das zerplaudert sich und macht retrospektiv die Dichte von Wunschkonzert noch einmal bewusst. Und der politisch-didaktische Subtext dieser Parabel? Nun ja. Aber macht das Theater? Mit oder ohne Kanon?

Bewertung:    


Thomas Rothschild - 11. Juni 2022
ID 13666
Alice (Großes Haus, 08.06.2022)
Regie: Mina Salehpour
Bühne: Robert Schweer
Kostüme: Maria Anderski und Dirk Traufelder
Musikalische Leitung: Sandro Tajouri und Moritz Bossmann
Licht: Andreas Barkleit und Johannes Zink
Dramaturgie: Christine Besier
Mit: Kriemhild Hamann (als Alice) sowie Hans-Werner Leupelt, Anna-Katharina Muck, Marlene Reiter, Raiko Küster, Franziskus Claus, David Kosel, Anton Löwe, Daniel Séjourné, Sarah Schmidt und den Live-Musikern Mark Bérubé, René Bornstein, Moritz Bossmann, Jason Liebert, Kristina Koropecki, Daniel Séjourné und Sandro Tajouri
Premiere war am 15. Januar 2022.

Wunschkonzert + Warum läuft Herr R. Amok? (Kleines Haus 1, 09.06.2022)
Regie: Lilja Rupprecht
Bühne: Paula Wellmann
Kostüme: Annelies Vanlaere
Musik: Fabian Ristau
Video: Moritz Grewenig
Licht: Rolf Pazek
Dramaturgie: Lüder Wilcke
Mit: Christine Hoppe, Matthias Reichwald, Nadja Stübiger, Kriemhild Hamann, Moritz Kienemann, Viktor Tremmel und Fabian Ristau (Live-Musik)
Premiere war am 30. September 2021.

Watership Down – Unten am Fluss (Kleines Haus 1, 10.06.2022)
Regie: Tom Kühnel
Bühne: Valentin Köhler
Kostüme: Ulrike Gutbrod
Musik: Anitha Kandasmy
Licht: Konrad Dietze
Dramaturgie: Kerstin Behrens
Mit: Moritz Dürr, Thomas Eisen, Katja Gaudard, Moritz Kienemann, Matthias Reichwald, Oliver Simon und Nadja Stübiger
Premiere war am 3. Juni 2022.


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsschauspiel-dresden.de/


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