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Premierenkritiken

Der Mann

der Stunde

3 Einakter von Jacques Offenbach in Dessau, Radebeul und Chemnitz


Ba-ta-clan am Anhaltischen Theater Dessau | Foto (C) Claudia Heysel


Jacques Offenbach war nicht nur ein begnadeter Komponist und Theatermacher: Wenn es darum ging, Abänderungen auf eins, zwei durchzuführen, sich auf eine neue Situation einzustellen oder Verordnungen zu berücksichtigen, konnte er ein verblüffend kreativer wie zielgerichteter Pragmatiker sein. Ob es nun Probleme in theateralltäglicher, modischer, stimmlicher oder staatlicher Hinsicht gab: Offenbach fand immer einen Ausweg. So schrieb er etwa aufgrund behördlich angeordneter Begrenzung auf drei bis vier Bühnendarsteller*innen zunächst nur Einakter. Auch bezüglich der Orchesterstärke zeigte sich Offenbach flexibel, weil er wusste, dass er sich von Idealismus nichts kaufen konnte - und kam mit dem aus, was ihm vor Ort zur Verfügung stand. Hauptsache, der Lappen geht hoch! Und diese Zweckmäßigkeit macht ihn jetzt, 140 Jahre nach seinem Tod und in einer Zeit der Einschränkungen und Reglementierungen, zum Mann der Stunde. Die Regierung mag auf Christian Drosten setzen: Die Theater setzen auf Jacques Offenbach! Notfalls wird die bereits veröffentlichte Saison 20/21 einfach umgestoßen und abgeändert, wie es beispielsweise Barrie Kosky an der Komischen Oper getan hat: Mahagonny fällt nun bereits vor seinem Aufstieg, stattdessen geht’s zur Grande-Duchesse ins (ebenso fiktive) Gérolstein. Die Rheinoper öffnet den Salon Pitzelberger, Putbus zeigt die „musikalische Menschenfresserei“ Oyayaye und das Musiktheaterkollektiv tutti d*amore begeisterte jüngst mit ihrer Version von Die beiden Blinden. Alles Offenbach‘sche Einakter und zugleich Raritäten, für deren Aufführung wenig Graben- und Bühnenpersonal benötigt wird. Ideal also für unsere Gegenwart der Abstandsregeln und Hygienekonzepte. Vergangenes Wochenende wurde der deutsch-französische Maître de Plaisir mit gleich drei Premieren gefeiert - in Dessau, Radebeul und Chemnitz.

* * *

Das Anhaltische Theater Dessau hat sich für die Aufführungen von Ba-ta-clan einen Perspektivwechsel ausgedacht. Das Publikum nimmt auf der Mittelbühne Platz und ist - trotz Mindestabstand - mitten im Geschehen. Man kann nach vorn in den Saal blicken oder nach oben in den Schnürboden, um die ganze Technik zu bestaunen. Problematisch hingegen: Die Positionierung des Orchesters auf der Vorderbühne, hinter ein riesiges Aquarium. Der Klang geht so in alle Richtungen, doch das, was zu hören ist, klingt souverän: Dirigent Wolfgang Kluge schnippt pointiert die Takte.

Als herbe Enttäuschung stellt sich die Regie von Jakob Peters-Messer heraus, der mit dem Sujet nicht viel anfangen konnte. In Ba-ta-clan treffen vier Personen im Fernen Osten aufeinander, die chinesisches Kauderwelsch plappern, bis sich herausstellt, dass alle Franzosen sind. Im Grunde ist diese chinoiserie musicale eine völlig durchgeknallte Satire über eine Staatsführung, die ihr Volk nicht versteht. Von dieser Bissigkeit ist in Peters-Messers Textfassung nichts mehr übrig: Er fasst das Stück mit Samthandschuhen an; die Dialoge wirken hölzern. Zudem jagt ein szenisches Klischee das nächste. Da flimmern Trump, Johnson & Co. ohne erkennbare Kohärenz kurz über die Leinwand, kommen uns die Franzosen mit Baskenmütze und Baguette unter Arm wirklich sehr französisch daher. Nichts gegen Ironie, nur witzig sollte sie schon sein. Womit wir beim größten Manko des Abends wären: Er ist überhaupt nicht komisch. Sängerisch ist alles im grünen Bereich, vor allem dann, wenn Schauspieler Roman Weltzien (Ké-Ki-Ka-Ko) die Tenortröte anwirft und Don Lee (Ko-Ko-Ri-Ko) seinen herbschönen Bass funkeln lässt.

Bewertung:    



Einen Tag später kippt Sebastian Ritschel an den Landesbühnen Sachsen in Radebeul ein wahres Füllhorn an Regieideen über der Insel Tulipatan aus. Auf dieser lernen sich ein als Mädchen aufgezogener Tenor (Florian Neubauer) und ein „männlicher“ Koloratursopran (Kirsten Labonte) kennen - und lieben. Selbst in einer Zeit der Ehe für alle sind Irritationen der jeweiligen Elternteile vorprogrammiert, was dem Liebespaar vollkommen wurscht ist, sowohl vor als auch nach der Aufklärung der tatsächlichen Geschlechtsidentitäten. Die opéra-bouffe ist ein Offenbach par execellence: Unter dem strassbestickten Mantel von frivolem Klamauk kommen politische Botschaften zum Vorschein, die ohne erhobenen Zeigefinger unters Theatervolk gebracht werden. Dieser Spagat gelingt Ritschel auf temporeiche, blitzgescheite und extrem lustige Art und Weise. Wenn etwa die Mutter dem Sohn im pinken Paillettenkleid erklären muss, dass er in Wirklichkeit kein Mädchen ist, dann wird hier die klassische Comingout-Situation originell auf den Kopf gestellt. Dazu Fummel, die auf jedem Tuntenball Preise abräumen würden, und eine Bühne, die nicht nur lebendiges Treiben möglich macht, sondern auch ein echter Hingucker ist. Die Ausstattung zeigt außerdem, wie gut die theatereigenen Werkstätten in Schuss sind.

Dass die vielen Gags im Tor landen, liegt auch an einem Cast, der regelrecht Funken sprüht: Florian Neubauer und Kirsten Labonte geben ein ganz entzückendes, lyrisch versiertes Pärchen ab; Antje Kahn ist eine herrlich angetüterte Théodorine, und Kay Frenzel mimt den Großseneschall als aufgedonnerten Popanz. Den Vogel schießt freilich Andreas Petzoldt ab, der den Fürsten in einer hochkomischen Mischung aus cholerischer Knallcharge und Transvestit am Rande des Nervenzusammenbruchs zelebriert. Sie alle wirbeln so köstlich, so spielfreudig über die Rampe, man könnte meinen, das Cross-Dressing sei seit jeher ihre künstlerische Heimat gewesen.

Abgerundet wird das Ganze mit einer toll instrumentierten Fassung für Kammerensemble, erstellt von Hans-Peter Preu, der auch die schmissig aufspielende Elbland Philharmonie Sachsen dirigiert. Dieser Offenbach kommt vom Zuckerhut, hat Groove, geht sofort ins Ohr und von dort direkt in die Beine. Zusammen mit Lenny Bernsteins Trouble in Tahiti ist hier ein Doppelabend („Inselzauber“) zu bewundern, der Broadway-Qualität hat. In Radebeul!

Bewertung:    



Der Absturz erfolgt im Rangfoyer des Opernhaues Chemnitz, wo Ein Ehemann vor der Tür steht. Die Handlung, die ihren Witz aus Slapstick, Situationskomik und dem Prinzip „Tür auf, Tür zu“ schlägt, hält einige Gags bereit, die von der Regie gar nicht versemmelt werden können - sollte man meinen. Doch Sascha Theis schafft nicht nur, jede Pointe gekonnt zu umschiffen: Seiner Inszenierung bröckeln immer wieder die Spannungsbögen weg. Eine Truhe wird zwar hin- und hergeschoben oder die besagte Tür. Trotzdem kommt der Abend nicht vom Fleck, was auch daran liegt, dass sich junge Sänger*innen (deren schauspielerische Mittel mehr oder weniger begrenzt sind) mit viel Text abrackern müssen. Dafür fährt man mit Flügel und Violine musikalisch auf Sparflamme. Der Tiefpunkt ereignet sich mitten im Offenbach, als ein Medley aus Lehár- und Strauss-Stücken erklingt - warum auch immer. Die Solisten mühen sich redlich … und beweisen dennoch, dass eine dialoglastige opérette-bouffe nicht mit Opernsängern besetzt werden sollte.

Bewertung:    



Thomas Kiechle (als Florian Specht), Marlen Bieber (als Susanne) und Katharina Baumgarten (als Rosine) in Offenbachs Einakter Ein Ehemann vor der Tür im Opernhaus Chemnitz | Foto (C) Nasser Hashemi

Heiko Schon - 22. Oktober 2020
ID 12543
BA-TA-CLAN (Anhaltisches Theater Dessau, 16.10.2020)
Musikalische Leitung: Wolfgang Kluge
Inszenierung: Jakob Peters-Messer
Bühne: Nancy Ungurean
Kostüme: Sven Bindseil
Chor: Sebastian Kennerknecht
Dramaturgie: Felix Losert
Besetzung:
Fé-Ni-Han … David Ameln
Ké-Ki-Ka-Ko … Roman Weltzien
Ko-Ko-Ri-Ko … Don Lee
Fé-An-Nich-Ton … Rita Kampfhammer
Anhaltische Philharmonie Dessau
Herren des Opernchores und Statisterie des Anhaltischen Theaters Dessau
Premiere war am 16. Oktober 2020.
Weitere Termine: 31.10. / 01., 20.11. / 04., 05., 19., 20., 26.12.2020
https://anhaltisches-theater.de

DIE INSEL TULIPATAN (Landesbühnen Sachsen, 17.10.2020)
Musikalische Leitung: Hans-Peter Preu
Inszenierung: Jakob Peters-Messer
Bühne: Nancy Ungurean
Kostüme: Sven Bindseil
Chor: Sebastian Kennerknecht
Dramaturgie: Felix Losert
Besetzung:
Cacatois XXII., Fürst von Tulipatan ... Andreas Petzoldt
Alexis, Cacatois' Sohn, Erbprinz ... Kirsten Labonte
Octogène Romboïdal, Cacatois' Großseneschall ... Kay Frenzel
Théodorine, Romboïdals Frau ... Antje Kahn
Hermosa, Romboïdals Tochter ... Florian Neubauer
Elbland Philharmonie Sachsen
Premiere war am 17. Oktober 2020.
Weitere Termine: 25.10. / 12., 13., 18., 22.11./ 12., 25.12.2020
https://www.landesbuehnen-sachsen.de

EIN EHEMANN VOR DER TÜR (Opernhaus Chemnitz, 18.10.2020)
Musikalische Leitung: Dan Rațiu
Inszenierung: Sascha Theis
Bühne und Kostüme: Claudia Weinhart
Dramaturgie: Christiane Dost
Lichtgestaltung: John Gilmore
Besetzung:
Florian Specht ... Thomas Kiechle
Susanne ... Marlen Bieber
Rosine ... Katharina Baumgarten
Martin Preller ... Andreas Beinhauer
Am Flügel: Dan Rațiu
Violine: Ovidiu Simbotin
Premiere war am 16. Oktober 2020.
Weitere Termine: 25., 30.10. / 06., 08., 18.11.2020
https://www.theater-chemnitz.de


Post an Heiko Schon

Musiktheater-Premieren



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