Die Sängerin
als Regisseurin
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Maria Rosendorfsky und Markus Francke in Kátja Kabanová am Theater Ulm | Foto: Jochen Klenk
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Bewertung:
Es gibt keine Gerechtigkeit. Noch nicht einmal auf dem vergleichsweise belanglosen Gebiet der Opernkritik. Die überregionalen Feuilletons blicken unisono auf ein knappes Dutzend Opernhäuser, die einen einzigen Vorzug haben: ein Budget, das ihnen das Engagement der „großen Namen“ erlaubt. Nur auf sie kommt es offenbar an, und der Journalismus lässt sich, auf Umwegen, einkaufen oder gar bestechen.
Dabei gibt es nun schon seit Jahren einen hochbegabten Nachwuchs, den zu entdecken und zu fördern zu den vornehmsten Aufgaben der Medien gehören sollte. Dazu kommen Qualitäten der Inszenierung, die in manchen Kleinstädten mit der idealisierten Metropolitan Opera mühelos konkurrieren können. In aller Deutlichkeit: nicht die kleinen Häuser in den kleinen Städten sind provinziell, sondern die Zeitungen und Rundfunkanstalten, die sie ignorieren, sind es.
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Es sind meist kleine Häuser, in denen die großen Stars der Oper wie des Schauspiels am Anfang ihrer Karriere die Gelegenheit erhielten, sich zu entwickeln. Eine der hervorragenden Opernsängerinnen unserer Tage, Angela Denoke (dass sie in diesem Jahr 60 wird – wer hätte das gedacht?), bekam ihr erstes Engagement vor knapp dreißig Jahren nicht an der Wiener Staatsoper und nicht an der Dresdner Semperoper, nicht in München und nicht in Paris oder New York, sondern am Theater Ulm, an dem, zur Erinnerung, immerhin auch solche Größen wie Kurt Hübner, Peter Zadek und Wilfried Minks gewirkt haben. Jetzt kehrt Angela Denoke an den Ort ihrer ersten Erfolge zurück – als Regisseurin und mit einer Oper, deren Titelrolle sie selbst mehrmals mit Bravour verkörpert hat: Kátja Kabanová (im tschechischen Original: Káťa Kabanová) von Leoš Janáček. Das Stück, dessen vom Komponisten selbst geschriebenes Libretto auf dem 72 Jahre älteren Gewitter des russischen Dramatikers Alexander Ostrowski basiert, ist ihr also vertraut. Als Regisseurin gibt sie ein Debüt. Wobei es ihr zum Vorteil dienen dürfte, dass sie nicht nur eine erstklassige Sängerin, sondern auch ein schauspielerisches Talent ist, das sich an vielen Stars der Sprechbühnen messen kann.
Kátja Kabanová wird von ihrem Mann Tichon keineswegs vergewaltigt. Sie ist, im Gegenteil, eine vernachlässigte Frau. Die Antagonistin, Tichons Mutter, ist eine Despotin. Und Tichon selbst ist der Typus des Schwächlings, der dem Diktat seiner Mutter willenlos ausgesetzt ist. Leoš Janáček, der zwei Jahre vor Sigmund Freud geboren wurde, hatte ein differenzierteres Weltbild als #Me Too. Das Programmheft und darin besonders deutlich eine Bemerkung von Angela Denoke heben auf das Thema der Einsamkeit ab. Aber Kátja Kabanová ist, darin Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk sehr nahe, unübersehbar ein Stück über das bis ins 20. Jahrhundert geleugnete sexuelle Begehren von Frauen. Eine Ahnung von dem Subtext der verheimlichten Sexualität vermittelt die kurze Szene, in der sich Boris’ Onkel Dikoj – außergewöhnlich mit seinem vollen, kräftigen Bass Vladislav Solodyagin – von der Kabanicha mit einem riesigen BH, einer Frauenklamotte und Stöckelschuhen einkleiden lässt.
Gespielt wird in und vor einer zweigeschoßigen Ruine (Ausstattung: Timo Dentler und Okarina Peter), vor der überdimensionale Steine und in der anachronistische Sperrmüllreste wie eine Zentralheizung und ein Kühlschrank umher liegen. Eine Schaukel hängt symbolträchtig vom Schnürboden herab. Kátja schaukelt und träumt von Boris. Wenn die beiden, hinter der Bühne, endlich zusammenkommen, vollzieht sich der Liebesakt nicht sichtbar, sondern in der Musik. Dann, zu Beginn des dritten und letzten Akts, zieht das Gewitter auf, das Ostrowskis Stück den Namen gab. „Die Heldin und ihr Wetter“ (frei nach der Dissertation von F.C. Delius).
Angela Denokes Regie ist solide, aber nicht sensationell. Einen guten Teil der Bühnenwirkung überlässt sie der Lichtregie von Johannes Grebing, der mit Aufhellungen in dem düsteren Totenhaus-Ambiente spart. Eine Herausforderung für jede Regie bedeutet das Ende, wenn Kátja sich in die Wolga wirft. Denoke stellt den Ertrinkungstod auf den Kopf. Sie lässt Kátja, wieder auf der Schaukel, nach oben entschwinden, während sich verkehrt herabhängende Requisiten – Stühle, ein Schaukelpferd – nach unten bewegen. Zurück bleibt die böse Schwiegermutter, die sich die Ohren zuhält und sich – schuldbewusst? – krümmt.
Der 1. Kapellmeister des Theaters Ulm Levente Török hat für diese Inszenierung eine Fassung für Klavier, Harfe und Harmonium hergestellt. Das ist gewagt. Török hat lange als Korrepetitor sein Geld verdient, und so hört sich seine Bearbeitung auch an: wie eine Probe vor der Anwesenheit des Orchesters. Wenn dann die Harfe und das Harmonium zum dominierenden Klavier hinzu kommen, wirken sie wie akustische Fremdkörper. So recht glücklich kann man mit dieser Lösung (für welches Problem?) nicht werden, zumal der Klang der einzelnen Orchestergruppen bei Janáček eine nicht geringe Rolle spielt.
Über diesen Mangel tröstet das durchweg hohe Niveau der Sänger und Sängerinnen, allen voran von Maria Rosendorfsky als Kátja Kabanová, hinweg. Sie steuern, von einem unterstützenden Orchester im Stich gelassen, ohne Patzer durch die nicht ganz einfache Partitur. Und das in tschechischer Sprache.
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Maria Rosendorfsky und Girard Rhoden in Kátja Kabanová am Theater Ulm | Foto: Jochen Klenk
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Thomas Rothschild - 1. Oktober 2021 ID 13179
KÁTJA KABANOVÁ (Theater Ulm, 30.09.2021)
Musikalische Leitung: Levente Török
Inszenierung: Angela Denoke
Ausstattung: Timo Dentler und Okarina Peter
Licht: Johannes Grebing
Dramaturgie: Benjamin Künzel
Choreinstudierung: Hendrik Haas
Besetzung:
Savjol Dikoj ... Vladislav Solodyagin
Boris Grigorjevič ... Markus Francke
Marfa Kabanová (Kabanicha)) ... Chiao Shih
Tichon Kabanov ... Girard Rhoden
(Katěrina (Kátja) ... Maria Rosendorfsky
Váňa Kudrjáš ... Joshua Spink
Varvara ... Eleonora Filipponi
Kuligin ... J. Emanuel Pichler
Gláša ... Maria Wester
Fekluša ... Eleonora Halbert
Evelyne Zoller (Harfe)
Giovanni Piana (Harmonium)
Vincenzo De Lucia (Klavier)
Opernchor des Theaters Ulm
Premiere war am 30. September 2021.
Weitere Termine: 03., 07., 16., 22., 30.10. / 06., 14., 19., 27.11.2021
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-ulm.de/
Post an Dr. Thomas Rothschild
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