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nachDRUCK # 5

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Festival-Fazit

Neun Hoch-Zeiten

und ein Total-

ausfall




Grau ziehen die Nebel, der Regen kriecht durch die Kleidung auf die Haut, das wenige Licht scheint fahl durch die kahlen Bäume, die Natur kommt nach und nach zur Ruhe. Es ist November und seit nunmehr 44 Jahren stemmt sich das renommierte, vom Westdeutschen Rundfunk und der Stadt Herne getragene Festival TAGE ALTER MUSIK IN HERNE der herbstlichen Tristesse mit überregionaler Leuchtkraft entgegen. Vier Tage lang, vom 14. bis zum 17. November, verwandelte sich die kulturell eher unauffällige Revierstadt mit insgesamt 10 angekündigten Konzertglanzlichtern auch in diesem Jahr in eine Pilgerstätte für Freunde der alten Musik. Unter der programmatischen Überschrift „Verstehen – Verwirren. Formen Musikalischer Kommunikation In Der Alten Musik“ erwartete den Hörer ein dramaturgisch engmaschig gewobenes Programm mit vokaler und Instrumentaler Musik aus Mittelalter, Renaissance, Barock und Romantik.

*

Mit einer exquisit musizierten Klavierfassung von Claude Debussys (1862-1918) Meisteroper Pelléas et Mélisande, gespielt auf zwei historischen Blüthner-Flügeln, erklang am zweiten Festivalabend erstmals auch ein Werk des beginnenden 20. Jahrhunderts. Zum Auftakt des Konzertreigens kam es für langjährige Stammgäste des Festivals in der Kreuzkirche zu einer Wiederbegegnung mit dem famosen italienischen Mittelalter-Consort La Reverdie.

Am 14. November widmete es sich dort ab 20 Uhr mit der ihm eigenen charakteristischen Mischung aus leidenschaftlicher Spielfreude, traumwandlerischer Stilsicherheit und mühelos anmutender Virtuosität den Ballati und Madrigali Francesco Landinis (1325-1397). Ein zweiter unbestrittener Höhepunkt war - ebenfalls in der Kreuzkirche - schon am Freitagnachmittag erreicht: Unter der Leitung seines Gründers Peter Phillips gab das englische Weltspitzen-Vokalensemble The Tallis Scholars sein langersehntes Festival-Debut. Intoniert wurden vorrangig Werke von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594), dessen kontrapunktisch kunstvoll konstruierte polyphone geistliche Musik zugleich auch maximale Textverständlichkeit zulässt, was einer zentralen Forderung aus dem Beschlusspapier des Trienter Konzils von 1563 entspricht. The Tallis Scolars realisierten das bei typisch englischem, sehr schlankem und vibratofreiem Ensembleklang auf exemplarische Weise: unbestechlich präzise und intonationsrein, mit innigster Hingabe an ihr Tun und mit atemberaubender Wendigkeit folgten diese zehn Ausnahmesängerinnen und Sänger ihrem mit profunder Kenntnis und klarer Vorstellung schlagenden Dirigenten.

Im samstäglichen Werkstattkonzert mit Studierenden der Kölner Musikhochschule gewahrte man Ordentliches: Sie sorgten für eine spannungsreiche Begegnung mit Werken Henry Purcells (1659-1695), die deutliche Einflüsse seiner italienischen und französischen Zeitgenossen aufweisen. Der spätere Samstagnachmittag stand dann - wiederum in der Kreuzkirche – ganz unter dem Banner des Dreißigjährigen Krieges. In sensationell feinsinniger Weise widmeten sich Starsopranistin Dorothee Mields und das junge Hathor Ensemble deutscher Musik des frühen bis mittleren 17. Jahrhunderts. Atmosphärisch dicht und artikulatorisch phantasievoll woben die Hathors mit Violine, Gamben, Harfe, Zink und Orgel einen klangfarblich eleganten fliegenden instrumentalen Teppich, auf dem Dorothee Mields gesanglich zu elysischen Höhen aufbrach.

Musikalisch knifflig sollte es beim Abendkonzert des achtköpfigen, überwiegend aus Lehrenden der Musikhochschule Köln bestehenden Ensembles Vintage Köln zugehen, als im Kulturzentrum kontrapunktische Kammermusiken aus vier Jahrhunderten auf dem Programm standen. Auszüge aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge sollten mit Consort-Musiken elisabethanischer Komponistengrößen wie Orlando Gibbons (1583-1625) und Wiliam Byrd (1543-1623) sowie mit kontrapunktischen Eigenwerken des Ensemblebratschers Sebastian Gottschick in spannungsreiche Beziehungen gebracht werden. Über das an musikalischer und interpretatorischer Peinlichkeit kaum zu fassende Geschehen auf der Bühne sei hier gnädig der Mantel betretenen Schweigens ausgebreitet.

Von diesem krachenden Absturz aus luftigen Höhen erholte sich das Festival mutmaßlich wohl schon wieder im Verlauf des nachfolgenden Spätkonzerts. Traditionell in der Künstlerzeche unser Fritz 1/2 abgehalten, schickte dort das italienische Exzellenzensemble Arte Musica zwischen Manierismus und Volkston changierende Instrumental- und Vokalkompositionen von Girolamo Frescobaldi (1583-1642) und Sigismondo D´India (1582-1629) über die Rampe – aber ach - der rollstuhlfahrende Berichterstatter hat´s wegen der (immer noch) nicht vorhanden Barrierefreiheit des Spielortes nicht erleben dürfen…

Auch während der Sonntagsmatinée im Kulturzentrum vernahm man wieder Ordentliches: selten zu hörende Bläsermusiken des 17. – 19. Jahrhunderts, ausgeführt vom sechzehnköpfigen Schwanthaler Trompetenconsort, das mit launigen Kommentaren und Erklärungen für zusätzlichen Schwung sorgte.


Mit der Bußpsalmvertonung Miserere d-moll und dem 1756 im galanten Stil verfassten Requiem Es-Dur Nicolo Jommellis (1714-1774 ) traten zu einem letzten exquisiten Nachmittagskonzert ein von der großartigen französischen Sopranistin Sandrine Piau angeführtes Solistenquartett sowie Schola Gregoriana, Chor und Orchester Ghislieri in der Kreuzkirche an. Die an dynamischer und artikulatorischer Feinarbeit kaum zu übertreffenden Interpretationen durch die jeweils glänzend disponierten Klangkörper machten staunen. Keine noch so geringe der äußerst akkuraten Anzeigen des ideal präparierten Ensemblegründers und Dirigenten Giulio Prandi blieb unberücksichtigt. Sandrine Pau, Countertenor Carlo Vistoli, Tenor Raffaele Giordani und Bass Salvo Vitale lieferten im architektonisch außergewöhnlich weit verzweigten Requiem in jeder Beziehung makellose Solo- und Ensemble-Einsätze, die von anrührender Intensität und Schönheit waren.

Ein würdiges, wenngleich auch nicht fulminantes Finale fand die diesjährige Festivalspielzeit mit der neuzeitlichen konzertanten Premiere der 1736 uraufgeführten Ballettoper Les Voyages de l´Amour von Joseph Bodin de Boismortier (1689-1755) im Kulturzentrum. Den vom Dirigenten und Cembalisten György Vashegy in der ungarischen Nachwendezeit gegründeten Ensembles Purcell Choir und Orfeo Orchestra mangelte es für diese musikalisch lohnenswerte Ausgrabung in der letzten Konsequenz jedoch am nötigen Quäntchen Raffinesse. Dynamisch bewegte sich die zwar hervorragend gesungene und musizierte Vorstellung leider nur im Spektrum zwischen Mezzopiano und Fortissimo. Tänzerische Leichtfüßigkeit und duftig zarte Klangtransparenz wollten sich partout nicht einstellen, was die zahlreich in die Partitur eingewobenen zauberhaften Kontraste leider nicht in voller Pracht zum Erblühen brachte. Aus der bemerkenswert homogen interpretierenden sechsköpfigen Solistenriege Einzelne herauszuheben, hieße Frevel begehen.

* *

Die 44. TAGE ALTER MUSIK IN HERNE können bis auf den einen (allerdings massiven) Aussetzer am Samstagabend zweifelsohne auf die Habenseite der beglückenden Spielzeiten verbucht werden. Und selbstredend machen sie am Tag danach schon Lust auf die nächste Ausgabe, die vom 12.-15. November 2020 unter dem Titel „Zurück zur Natur“ einen ähnlich glücklichen Ausgang finden mag.
Jörg Maria Welke - 19. November 2019
ID 11828
https://www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/


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